KHARKIV CALLING
November 2023

Es sind einfühlsame, genaue Schilderungen eines Lebens im alltäglichen Ausnahmezustand. (…) Direkt sprechen die Frauen und zugleich lassen die mehrminütigen, ruhigen Filme Raum für Ambivalenzen.

Elena Philipp, 10.11.2023, Berliner Morgenpost

Die junge Schauspielerin Anna Mrachkovska (…) erzählt von ihren Gewissensbissen, das Land verlassen zu haben, von ihrer Mutter, die sie beim Abschied als „Verräterin“ beschimpfte. Mrachkovska liefert eine sehr brüchige, fragile und in sich zum Teil widersprüchliche Rahmung der (Video-)Interviews. Gerade diese Fragilität ist aber eine Stärke. Sie stellt Nähe her und eröffnet den Blick auf die Kriegsfolgen jenseits der Schlagzeilen, großen Erzählungen und auf den Schockreiz setzenden Bilder.
Tom Mustroph, 14.11.2023, TAZ

Eine Fluchtgeschichte und gleichzeitig eine Emanzipationsgeschichte, denn sie ging gegen den Willen ihrer Eltern ins Exil, um hier mit ihrer Partnerin zusammenzuleben. (…) trotz ihrer Skizzenhaftigkeit öffnet auch diese Arbeit zumindest eine Ahnung der unterschiedlichen Lebensentscheidungen, die man im Krieg treffen kann – und ermöglicht also eine weitere Begegnung mit dem „Anderen“. …ein gewichtiges Thema, … und interessantes Videomaterial.“
Sophie Diesselhorst, 10.11.2023, Nachtkritik

INDEPENDENCE
Januar 2023

Indem er Unabhängigkeit auf drei Ebenen, der persönlichen, der politischen und der symbolischen auf der Theaterbühne durchspielt, entwickelt der Film einen ungeheuren Sog und wirkt dadurch unangestrengt und unmittelbar.
Jury-Begründung, Bester Dokumentarfilm im Preis der Filmkritik, Filmfestival Max Ophüls Preis 2023

Der Preis für die Beste Musik im Dokumentarfilm geht an einen Film, der uns in Gänze überzeugt und begeistert hat. Die Musik- und Tonebene liefert einen außerordentlichen Beitrag zur Poesie und Strahlkraft dieses rundum starken Werkes, das ein an sich abstraktes Thema mit Leben und Emotionen füllt: Regisseur und Autor Felix Meyer-Christian und Komponist Marcus Thomas bringen uns in INDEPENDENCE die psychische und physische Wucht von Identitäts- und Unabhängigkeitsfragen nahe.
Jury-Begründung, Beste Musik in einem Dokumentarfilm, Filmfestival Max Ophüls Preis 2023

Dieser Parforceritt hätte leicht misslingen können, doch durch die bedachte Auswahl an Orten und Gesprächspartner:innen sowie Helen Wendts kluge Gedanken und Fragen aus dem Off entsteht ein gleichermaßen vielschichtiges wie erhellendes Mosaik, ein kurzweiliger filmischer Essay. Tagesspiegel Berlin, Kaspar Heinrich, 29.01.2023


Rundum gelungen ist Independence von Felix Meyer-Christian, der sich in seinem multimedialen Projekt auf die Suche nach einer Definition dieses oft benutzten, aber nie eindeutig definierten Begriffs begibt.
Black Box – Filmpolitischer Informationsdienst, Ulrich Sonnenschein, März 2023

 

APPETIT
Februar 2022

Wie sehr wir alle uns der industriellen Landwirtschaft ausgeliefert haben, beschäftigt die (Costa Compagnie an der) Dresdner Bürgerbühne. In ihrer Recherche-Performance verzichten sie dabei auf jeden verdauungspädagogischen Zeigefinger. (…) Man möchte aber diese unpolemische Arbeit nicht auf Dokumentarisches reduzieren. Dafür ist sie zu sinnlich und atmosphärisch angelegt.
Nachtkritik, 25.02.2022

EMPIRE OF OIL 1-3
Mai 2018

„Empire of Oil“ zählt, im Gelingen wie im Scheitern, zu den interessantesten Freie-Szene-Produktionen der jüngeren Vergangenheit. Besonders der erste Teil, „A Research in 360°“, fächert ein bemerkenswertes Panorama auf. Der Dokumentarfilm wird auf eine Leinwand projiziert, von der die Zuschauer umschlossen sind.
Tagesspiegel Berlin, 26. Mai 2018

Es sind beeindruckende Bilder, die einen mit „The Underground Frontier“ im Ballhaus Ost umschließen: Aufnahmen aus der Luft über arktischen Gewässern oder mitten zwischen Menschen auf einer Straße in Mossul. Dazu ertönen lang anhaltende, dunkle Klänge, die einen noch stärker in die Umgebung hineinziehen. Manchmal wirkt dieses immersive Bühnengeschehen bedrohlich, dann wieder mystisch, gar magisch.
TAZ, 03.02.2018

Ein durchaus auch ästhetisch überzeugender Beitrag zur kollektiven Erinnerung der Geschichte um das globale Reich des Öls und seine wirtschaftlichen wie ökologischen Folgen. (…) Besser lässt sich die Bilateralität von Mensch und Natur wohl nicht darstellen.
DER FREITAG, online 31.05.2018

„Die Aussagen der etwa zwei Dutzend Personen werden eingebettet in opulente 360-Grad-Filme, die in einem Rundhorizont im Ballhaus Ost zu sehen sind. Die Filme, teils Drohnenaufnahmen, teils statisch aufgenommen, zeigen Bohrtürme in arktischen Gewässern und im vom Krieg zerstörten Nordirak.“
ZITTY Berlin, 22. November 2017

„Das nächste Stück handelt übrigens von der zunehmenden Faschistisierung des politischen Klimas. Trump, AfD und Co. Wieder wird die costa compagnie recherchieren, dicht am Material bleiben und gleichzeitig nach einer neuen choreographischen Form suchen. Denn unsere Realität ist viel zu komplex, um sie zu verallgemeinern.“
BLOG – Performing Arts Festival Berlin 2017

„Sie interviewten Soldaten, Zivilisten, Taliban-Fans und emanzipierte Aktivistinnen, filmten ihren Anflug auf staubige Häuserreihen, spielende Kinder auf weiten Plätzen, friedliches Brotbacken zu heiterer orientalischer Musik oder bedeutungsschwangerem Elektro. Heraus kommt: Erstaunliches. Widersprüchliches. Hoffnungsvolles. Flehendes.“
Theater Heute, August 2016

„Damit nähert sich „Conversion / Nach Afghanistan“ mit einer tiefgründigen Inszenierung künstlerisch komplexen Lebensrealitäten an und animiert zum Nachdenken.“
ORF (Österreichischer Rundfunk), 09.04.2016

„In eindrucksvollen Bild-, Sound- und Tanzkompositionen, arrangiert mit intelligent montiertem Text aus dokumentarischen und essayistischen Anteilen, gelingt es der Performance-Gruppe „Costa Compagnie“, sich mit künstlerischen Mitteln Erfahrungen einer heterogenen afghanischen Gegenwart anzueignen, sie in einen politischen wie auch emotionalen Kontext zu übersetzen und bei aller Bestürzung, einen Hoffnungsschimmer aufblitzen zu lassen.“
Theaterpur.net, 30.06.2016

„… die Truppe macht zuletzt auch ihre eigene Rolle zum Thema. Können und dürfen westliche Künstler für die Menschen Afghanistans sprechen, ohne dabei deren Stimmen zu verfälschen oder in Moral-Kitsch oder in Kunst-Kolonialismus abzugleiten? Auf fantastische und smarte, wenn auch teilweise ausufernde Weise wird so die Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit im Umgang mit sogenannten Krisengebieten unmittelbar erfahrbar!“
Kronenzeitung, 09.04.2016

»Start Cooking … Recipe will follow«, hat der  »Impulse Theater Festival 2016«-Leiter Florian Malzacher seinem Festival als Jahrgangs-Motto verpasst. Was in etwa auch der Leitspruch des Einsatzes der Amerikaner und Deutschen in Afghanistan war. Kurz vor Ende der ISAF-Mission sind die Künstler der Costa-Compagnie unter Führung von Felix Meyer-Christian noch mal an den Hindukush gereist, um zu schauen, welche Freiheit da genau verteidigt wurde. Mit Soldaten haben sie gesprochen, mit Zivilisten, mit Taliban-Fans und emanzipierten Frauen. Entstanden ist aus der Recherche die kluge Performance »Conversion / Nach Afghanistan«. Ein Mix aus Videoimpressionen, Tanzpassagen und Dokutheater. Im Satz eines interviewten Befehlshabers, wonach die »Freund-Feind-Kennung« vor Ort verloren gegangen sei, ist dabei ziemlich präzise der Status quo der militärisch-moralischen Orientierungslosigkeit zusammengefasst. Noch ein Kriegsstück, das ohne Didaktik überzeugt.“
www.kulturwest.de, 15.06.2016

„(…) unter all den gelisteten Vorschlägen für Theaterbesuche auch eine Produktion war, die eben jener Frage nach Kunst, Politik und Handeln tiefgründig, mutig und gleichzeitig erfrischend offen am allerkonkretesten nachging, wie es vorher so noch nicht gesehen wurde: „Conversion – Nach Afghanistan“ am völlig überfüllten Ballhaus Ost von der freien Gruppe Costa Compagnie. (…)
Die Gruppe selbst bleibt dabei nicht neutral und verweist nach einer klaren Benennung der Problematiken im Land und der Widersprüche des Westens in ihrem Abschlusstext auf die Ungültigkeit einer kapitalistischen Kosten-Nutzen-Rechnung im Kriegsgebiet und fordert ganz utopisch „polyphone Prinzipien“ und eine Neuausrichtung des Denkens innerhalb der eigenen Bewertung, um parallel sehr real-politisch ein Ende der Gewalt einzufordern – „mit welchen Mitteln auch immer“. Wer etwas dringliches von der Welt erfahren will und mehr auf „Art“ statt auf „Artivism“ setzt, muss diesen Abend gesehen haben.“
www.nachtkritik.de / leserkritiken, 30.01.2016

„Die Costa Compagnie versucht nicht, als Welterklärer aufzutreten. Sie dokumentiert mit künstlerischen Mitteln wirkungsmächtig das Kaleidoskop einer heterogenen afghanischen Gegenwart auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft. Eine bemerkenswerte Leistung.“

Mannheimer Morgen, 11.05.2015

„Kritiker(innen) des herkömmlichen Frauenbilds in Afghanistan kommen ebenso zu Wort wie Befürworter der Taliban und der Scharia, Soldaten der Isaf-Truppen ebenso wie Zivilisten. In leidenschaftlichen Tanzsequenzen ahnt man traumatische Erlebnisse. (…) Etwas erschlagen entlässt einen diese Inszenierung, bei der im dichten Knäuel der atemlos einander abwechselnden Szenen und Fragmente die Orientierung bisweilen verloren geht. Dennoch: Überdeutlich und eindrucksvoll artikuliert sich am Ende die sorgenvolle Frage: Afghanistan, quo vadis? Es gelingen packende Bilder und eindringliche Momente, vor allem im Tanz, für die dem Hamburg-Heidelberger Ensemble Lob gebührt. Das Publikum zeigte sich mit langem, herzlichem Beifall sehr angetan.“

Rhein-Neckar-Zeitung, 11.05.2015

Bei „Traces of Afghanistan“ fügen sich nun Erzählberichte, Film, Toneinspielungen, Interview-Leseauszüge und Tanz zu einem differenzierten, multiperspektivischen Performance-Mosaik aus Gegenwartsanalyse und gegenseitiger Wahrnehmung zusammen, das einen mit Spannung auf die Ergebnispräsentation am 8. Mai warten lässt.

Mannheimer Morgen, 16.02.2015

„…’60 seconds‘ gehört – neben dem bereits im Juni uraufgeführten, auf Interviews basierenden visuellen Raumessay CONVERSION_1 der costa compagnie – zum Eindrücklichsten des Gesamtparcours (Festival Born-with-the-USA).“

Theater der Zeit, 11/2014

„Eine der ungewöhnlichsten Theaterproduktionen der letzten Jahre.“

Rhein-Neckar-Zeitung, 16.06.2014

Die Aufführung bietet insgesamt eine atemberaubende Mischung aus Tanz, Musik und Video.“

Feuilleton Ruprecht Heidelberger Studentenzeitung, 26.07.2014 

„…das Endergebnis – eine „Chogeographie“ – schreitet geographische und zeitliche Räume ab, immer auf der Suche nach der erlebten Erinnerung, die für den Einzelnen die Wirklichkeit darstellt. Kann man aus der Vergangenheit überhaupt Erkenntnisse für die Zukunft ziehen? Oder wiederholt sich Geschichte ohnehin nie? Die Costa Compagnie stellt diese Fragen sehr deutlich und zeigt in vielen Sequenzen, dass es ‚die‘ historische Wirklichkeit, geschweige denn eine dokumentierte Wahrheit, nicht gibt. Der Künstlerische Leiter Felix Meyer-Christian setzt die Mitglieder der Costa Compagnie eindrucksvoll in Szene, besonders die Tanz-Szenen zeugen von großer Professionalität.“

Rhein-Neckar-Zeitung, 11.07.2014

„Die Künstlergruppe costa compagnie entwickelte in einer zehntägigen Arbeitsphase (und 6-wöchigen Residency) im Hafenbahnhof und im Steubenhöft im Auftrag des Kunstvereins Einzelarbeiten und eine Sequenz von Performances, die sich unter anderem mit der Raketenforschung Cuxhavens, Beiruts und Cape Canaverals beschäftigte. Letzteres konnten die Besucher der Aktion eindrucksvoll im Kuppelsaal der HAPAG-Halle nachvollziehen, wo drei Videos aus diesen Orten gegenübergestellt wurden. Eingesprochene Live-Texte auf Deutsch und Englisch ermöglichten einen Zugang.“

Cuxhavener Nachrichten, 24.05.2014

„Der Abend ,Die große zoologische Pandemie‘ besticht auf jeden Fall immer wieder mit seiner unbändigen Unterhaltsamkeit, die den unterschiedlichen Temperaturen des Textes gerecht wird und gleichzeitig über die Vorlage hinausweist. Dabei gebiert die Inszenierung ganz eigene Bilderwelten, die zwischen Wirklichkeit und Traum delirieren.“

nachtkritik.de, 18.04.2014

„Er [Felix Meyer-Christian] nimmt die Vorlage als Sprachpartitur und lässt das Ensemble damit regelrecht rocken. (…) Was Nora Decker, Mathias Spaan und Stefan Graf an Kabarett, Clownerie und Zirkusartistik aufführen, ist mitreißend – eine Power-Performance, bei der selbst verschwurbelte Gedanken mit enormer Dringlichkeit dargeboten werden.“

Stefan Benz, ECHO, 23. April 2014

„Diese Performance erhellt den Schatten, den sie vorauswirft.“

Die Welt, 19.01.2013 zu „Fukushima, my love“

„Unfassbar und unsichtbar bleibt die verheerende Strahlung letztlich auch an diesem knapp zweistündigen Abend. Aber die zeitarchäologische Annäherung an den glühenden Kern der Katastrophe durch die Hamburger Gäste sorgte doch für eine ganz erhebliche Sensibilisierung hinsichtlich der fatalen Konsequenzen.“

Rhein-Neckar-Zeitung, 04.10.2013

„Fukushima, my love vermittelt kunstvoll Wissen, Gefühl und Verständnis zu Fukushima und der japanischen Kultur.“

Now!Out,10.06.2013

„Die japanischen Studenten unterstützten Meyer-Christian bei seiner Recherche. Eine Studentin dolmetschte, denn auf dem Land, auch im Gebiet in der 20-Kilometer-Sperrzone um die Reaktoren herum, spricht kaum jemand Englisch oder gar Deutsch.“

Hamburger Abendblatt, 19.01.2013

„Die große zoologische Pandemie“ ist in etwa so, wie sich der Laie „modernes Theater“ vorstellt: Bunt, laut, bruchstückhaft und undurchschaubar, aber nichtsdestotrotz ein Heidenspaß.“

Mainzer-Rhein-Zeitung, 23.09.2012

„Felix Meyer-Christian packt am konzessionslosen Abend, ähnlich seinen anderen historisch-kritischen Recherchen, ein verdrängtes heißes Thema an. Und baut – mit gedanklicher Schärfe und künstlerischer Widerständigkeit – eine artistische Stromschnelle in den sich konsumfreundlich und träge dahinwälzenden Theater-Mainstream.“

Hamburger Abendblatt, 12.09.2012

„Das ist ein durchweg starker Zugriff auf Kohlhaas und Kleist mit den Mitteln des Theaters.“

Michael Laages, 20.02.12, Jury-Entscheidung zum Körber Studio Junge Regie 2012 ^

In Zeiten arabischer Revolutionen, Occupy-Bewegung und Demonstrationen in EU-Staaten ist der freien Gruppe Costa Compagnie ein aktueller Beitrag von inhaltlicher und künstlerischer Brisanz gelungen.“

www.hamburgtheater.de, 20.02.12

„Überzeugend auch „Kohlhaas. Frei nach Kleist“ von Felix Meyer-Christian von der Hamburger Theaterakademie, der zeigte, dass ein sorgsam karges Bühnenbild wahre Wunder wirken kann, wenn einer es versteht, seine Spieler zu leiten – und umgekehrt.“

Die Welt, 05.04.12 

„Eine reife und heutig reflektierte Interpretation des Novellenstoffs von Felix Meyer-Christian von der Hamburger Theaterakademie.“

Hamburger Abendblatt, 07.04.12

„Regisseur Felix Meyer-Christian verschafft ein intensives Theatererlebnis. (…) Das alles ist zum Weinen traurig und doch beglückend, weil dieses Stück so gelungen ist.“

Neue Osnabrücker Zeitung, 3.11.2011

„Der gewagte Versuch, die Katastrophen und glücklichen Zufälle von 1645 in Kleists „Erdbeben“-Novelle in dem tatsächlichen Exodus der KZ-Häftlinge von Stutthof nach Neustadt von 1945 zu spiegeln, ging überraschend gut auf. (…)Bewegend, ohne Pathos, fallen Fakten und Fiktion in diesem Requiem mit Gesang ineinander. Ein starker Finale-Schlusspunkt.“

Hamburger Abendblatt, 04.04.2011

„Als Danny (…) in seiner Verzweiflung Bühnenaufbau und Vorhang niederreißt und dahinter doch nur ein größeres Gefängnis vorfindet, ist das in seiner Klarheit ein so unsagbar starker Moment, wie er nur aus planvoller Reduktion resultieren kann.“

nachtkritik.de, 12. Juli 2010

„Der Mut und das Geschick, mit dem sie (…) durch solche Zitate den Faust II ins Jetzt hieven und dabei verschiedenen Spielästhetiken und Genres zur Collage ineinander fließen lassen, ohne sich dabei im Weg zu stehen, macht Spaß und gespannt auf weitere späte Nächte.“

körber studio junge regie textversion, 20. März 2010

RADIO-Interviews

Deutschlandradio Kultur

Rang 1 – Theatermagazin

21. August 2021

„Militärisches Scheitern in Afghanistan war absehbar“
Das Künstlerkollektiv „Costa Compagnie“ hat 2014 Menschen in Afghanistan interviewt. Daraus wurde ein Stück, das im Oktober erneut gespielt wird – mit aktuellem Bezug. Der Leiter der Kompanie ist von der Taliban-Machtübernahme nicht überrascht.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/theaterkollektiv-costa-compagnie-militaerisches-scheitern-100.html

Deutschlandradio Kultur

Kompressor vom 02.05.2018

Kunstprojekt auf der re:publica18 – Was die Erdölförderung ausmacht

https://www.deutschlandfunkkultur.de/kunstprojekt-auf-der-re-publica-was-die-erdoelfoerderung.2156.de.html?dram:article_id=416990

Deutschlandradio Kultur

Rang 1 – Theatermagazin

12.07.2014

Über CONVERSION 1 – Eine deutsch-amerikanische Chogeographie

http://www.deutschlandradiokultur.de/theater-intendanzen-ueberall-neustarts.2159.de.html?dram:article_id=291495 

Südwestrundfunk

SWR2 am Morgen

Zu CONVERSION_1: Archäologie der Gegenwart

http://swrmediathek.de/suche.htm?econt=conversi 

Deutschlandradio Kultur

Radiofeuilleton – Bühne

20.01.2013

Zu FUKUSHIMA, MY LOVE

http://www.youtube.com/watch?v=aAvBUAb-EoQ 

Deutschlandradio Kultur

Radiofeuilleton – Bühne

30.03.2012

Zu Kohlhaas. Frei nach Kleist.:

http://journalismus-mhmk.de/digger/koerber-studio-abendessen-felix-meyer-christian/ 

PRINT- und ONLINE-MEDIEN

Produktion: KHARKIV CALLING

Tourette und Kriegsalltag auf dem Monologfestival

Mit zwei Solo-Stücken von Rimini Protokoll und Costa Compagnie startet am TD Berlin das siebte Monologfestival.
Elena Philipp, 10.11.2023, Berliner Morgenpost

Berlin. Wie führt ein Weg vom Ich zum Wir? Diese Frage stellt der TD, vormals Theaterdiscounter, alle zwei Jahre mit seinem Monologfestival. Bis zu zehn kurze Soli werden beauftragt, eigens für das zehntägige Event. Zur Eröffnung der siebten Ausgabe geben sich zwei Lokalmatadore aus der Freien Szene die Ehre: Rimini Protokoll und die Costa Compagnie.

(…) Eine gelungene Kurzversion des 2020 zum Theatertreffen eingeladenen Originals. Nur wer Neues erwartet hat, wird enttäuscht. Innovation ist das „höher, schneller, weiter“ der Performancekunst, daher muss man diesen Maßstab gar nicht anlegen. Untauglich ist er auch beim zweiten Eröffungsstück,„Kharkiv Calling“ der Costa Compagnie. Die Lebensgeschichte der Performerin, der 20-jährigen Schauspielstudentin Anna Mrachkovska, bildet den Rahmen für vier Interview-Filme mit ukrainischen Frauen, die ihre Familien verlassen haben, um im Krieg zu dienen. Felix Meyer-Christian hat die dokumentarischen Filme vor Ort mit dem Kameramann Thomas Oswald aufgenommen.

Es sind einfühlsame, genaue Schilderungen eines Lebens im alltäglichen Ausnahmezustand. Die Presseoffizierin Oksana erzählt, dass sie sich von ihren Kindern vielleicht für immer verabschiedet hat. Der Menschenrechts-Anwältin und Drohnenpilotin Zhenya blitzt der Hass aus den Augen, wenn sie versichert, jeden russischen Kämpfer, der ihr begegnet, umzubringen – ohne Prozess, ohne Tribunal. Die Waffen des Rechtsstaats haben versagt, jetzt herrscht Selbstjustiz. Zum Töten gezwungen hätten sie allerdings die Russen, erklärt Helena, die als Mitglied der Nationalgarde Feinde tötet, aber nicht gerne darüber sprechen möchte. Zu groß ist die Bürde.

Direkt sprechen die Frauen und zugleich lassen die mehrminütigen, ruhigen Filme Raum für Ambivalenzen. Einmal erzählt Anna Mrachkovska von ihrer Flucht nach Berlin, die zur Entfremdung von ihrer Familie führte. „Verräterin“ schleuderte ihre Mutter ihr beim Abschied entgegen. Und dann hört man Tatjana, die sagt, nach Berlin könne man ja in den Urlaub fahren. Wer etwas auf sich hält, bleibt, um das eigene Land zu verteidigen.

Wer gegangen ist, muss sich vor dem ukrainischen Volk verantworten: Ihre Performance sei eine Dankesgeste, sagt Mrachkovska, und positioniert sich damit, wie viele Künstler, im Einsatz an der „Kunstfront“. Detailreich und etwas länglich, aber in seiner Konkretheit so anschaulich ist „Kharkiv Calling“, dass man auch über eineinhalb Stunden dranbleibt. Danach geht’s ab in die Berliner Nacht, um der Spree in Freude über ein Leben in Frieden und Freiheit einmal laut „du nautische Nuss“ zuzurufen.

Frauen an der Front

In „Kharkiv Calling“ der Berliner Costa Compagnie erzählen Ukrainerinnen davon, selbst in den Krieg zu ziehen

Von Tom Mustroph

Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg hat Swetlana Alexijewitsch mit ihrem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ ein erschütterndes Denkmal gesetzt. Dem fügt die Berliner Theatergruppe Costa Compagnie nun ein neues Kapitel hinzu. Im ukrainischen Kharkiv interviewte die Gruppe im August 2022 vier ukrainische Frauen, die an die Front gingen. Sie kämpfen gegen die Nachfolgeorganisation derjenigen Armee, zu der Alexijewitschs Interviewpartnerinnen einmal gehörten. Wer heute Aggressor ist, war vor 80 Jahren noch Verteidiger, eine zynische Volte der Geschichte.

Erste der Verteidigerinnen von heute ist Oksana. Kurze blond gefärbte Haare trägt sie. Ihr Gesicht blickt energisch von der Videowand. Mann und Kinder schickte sie in den ersten Kriegstagen in die Sicherheit ins Ausland. „Ein Gender-Swap“, sagt sie trocken. Jetzt sieht man sie in Uniform an Hausfassaden vorbeilaufen, die schwarz gefärbt sind vom Feuer und aus denen Granaten große Stücke herausgerissen haben. Oksana arbeitet als Presseoffizierin der Armee, sorgt dafür, dass der Krieg ein Gesicht hat, ein männliches zumeist. 

Denn den Kampf bestreiten vornehmlich die Männer. Das wird aus den Interviews auch klar. 

Eine die selbst kämpft, ist Zhenya. Sie steuert Aufklärungsdrohnen, späht Stellungen der Gegner aus, um sie zu töten. Sie war im Zivilberuf Menschenrechtsanwältin, verteidigte Opfer von Polizeigewalt und brachte, wie sie erzählt, Fälle bis vor den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Jetzt sagt Zhenya, dass sie auf den Strafgerichtshof gut verzichten kann und russische Soldaten, denen sie Verbrechen nachweisen kann, am liebsten höchst selbst tötet. 

Sie hat von all den Protagonistinnen den radikalsten Wandel vollzogen. Als Verteidigerin der Schwachen bleibt sie sich aber auch selbst treu. Es berührt und schmerzt, macht zornig und tieftraurig, dass diese Zhenya sogar bei ihren härtesten Aussagen noch immer nachdenklich wirkt, regelrecht durchlässig. An ihrem groß auf die Wand projizierten Gesicht kann man ablesen, was Krieg auch mit denen macht, die für eine sehr gerechte Sache ihr Leben einsetzen und das Leben anderer nehmen.

Sehr klein, nur lebensgroß, taucht  Anna Mrachkovska vor und zwischen den Videosequenzen auf. Die junge Schauspielerin führt durch den Abend. Sie beginnt ihn mit einem schrägen Scherz: Was haben Berlin und ihre Heimatstadt Winnyzja gemein? Ein Führerhauptquartier. Tatsächlich errichteten vornehmlich sowjetische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter in einem Wald in der Nähe der Stadt eine solche Bunkeranlage für Hitler. Sie wurden nach Fertigstellung getötet. Zum nationalsozialistischen Kolonisierungsprogramm gehörte auch die Ermordung und Vertreibung der lokalen Bevölkerung und die Ansiedlung von mehreren Tausend Deutschen in der Region. Geschichte macht schaudern. 

Mrachkovska fügt mit eigenen biografischen Einsprengseln eine sehr zivile Dimension ein. Sie erzählt von ihren Gewissensbissen, das Land verlassen zu haben, von ihrer Mutter, die sie beim Abschied als „Verräterin“ beschimpfte. Sie erzählt auch davon, dass ihre Eltern lange ihre lesbische Beziehung ablehnten, sie deshalb sogar die Wohnung, die extra für sie in Kyiv gekauft wurde, verlassen musste. Erst der Krieg führte dazu, dass ihre Eltern zwischenzeitlich ihre Partnerin Sofia und deren Familie aufnahmen.

Mrachkovska liefert eine sehr brüchige, fragile und in sich zum Teil widersprüchliche Rahmung der Interviews. Gerade diese Fragilität ist aber eine Stärke. Sie stellt Nähe her und eröffnet den Blick auf die Kriegsfolgen jenseits der Schlagzeilen, großen Erzählungen und auf den Schockreiz setzenden Bilder. 

„Kharkiv Calling“ beim Monolog-Festival (bis 19. Novermber) am TD Berlin.

Produktion: EMPIRE OF OIL / Part 1 – 3

Tagesspiegel, 26. Mai 2018

Ein ganz besondrer Saft

Tiefenbohrungen am Theater: Das Performance-Kollektiv Costa Compagnie widmet sich mit der Trilogie „Empire of Oil“ im Ballhaus Ost dem begehrtesten Rohstoff der Welt.

Von Patrick Wildermann

Es war zu Zeiten des zweiten Golfkriegs Anfang der 90er Jahre, als man viele junge Menschen auf Demonstrationen mit Transparenten sehen konnte, die die Parole „Kein Blut für Öl!“ in die Welt riefen. Wo das schwarze Gold fließt, so das Diktum, geht es nicht um militärische Ziele. Sondern nur ums Geld. Zu einem ähnlichen Schluss gelangt das Performance-Kollektiv Costa Compagnie in seiner Trilogie „Empire of Oil“ – mit dem Unterschied, dass die Gruppe einen durchaus komplexeren Weg beschreitet, um das Geflecht von Bohrungen und Brandherden, von Ökonomie und Ökologie zu durchleuchten.

Das in Hamburg und Berlin ansässige Kollektiv ist nach Norwegen und in den Irak gereist, um mit Menschen zu sprechen, deren Leben auf sehr verschiedene Weise von den globalen Ölspuren gezeichnet ist. Seit November vergangenen Jahres haben die Künstlerinnen und Künstler um Leiter Felix Meyer-Christian aus dem gewonnenen Material bereits einen Film und eine essayistische Performance entwickelt. Mit dem dritten Teil, einer Choreografie unter dem Titel „An Infinite Ending“, findet die Unternehmung jetzt im Ballhaus Ost ihren Abschluss. Wobei anlässlich der finalen Premiere die Trilogie noch einmal im Gesamten zu erleben ist.

Erfreulich, denn „Empire of Oil“ zählt, im Gelingen wie im Scheitern, zu den interessantesten Freie-Szene-Produktionen der jüngeren Vergangenheit. Besonders der erste Teil, „A Research in 360°“, fächert ein bemerkenswertes Panorama auf. Der Dokumentarfilm wird auf eine Leinwand projiziert, von der die Zuschauer umschlossen sind. Als Inspiration diente der Rundhorizont von Hendrik Willem Mesdag von 1881, ein Gemälde, das heute noch in Den Haag das 360-Grad-Erlebnis von Strand und Nordsee ermöglicht. Der Perspektivreichtum, auf den die Costa Compagnie zielt, wird so schon technisch beglaubigt. Ergänzend kann man sich, im zweiten Stock, eine 11-minütige Mittendrin-Erfahrung per Virtual-Reality-Brille verschaffen. Da steigt man die endlose Leiter auf einer Förderplattform hinab, steht neben patrouillierenden Soldaten an einer staubigen Straße in Mossul, blickt auf zerklüftete Landschaften in einer Region, die wir den Mittleren Osten nennen.

„A Research in 360°“ sucht den größtmöglichen Kontrast der Regionen. In Norwegen, wo Ende der 60er Jahre jenes Ölwunder begann, das noch heute über ein Fondssystem den Sozialstaat sichert, treffen die Costa-Künstler unter anderem den Offshore-Manager einer großen Ölfirma. Einen irakischen Geologen, der im hohen Norden im staatlichen Auftrag sein Förder-Knowhow eingebracht hat. Sowie eine Greenpeace-Aktivistin, die analysiert, dass sich „hinter den meisten sozialen Konflikten ein ökologischer Grund“ verberge, und die auch – gendermäßig etwas bedauerlich – die gefühlige Seite des Umweltschutzes verkörpert, weil ihr beim Anblick von Seevögeln neben Bohrplattformen immer die Tränen kommen.

Im Irak hingegen landen die Künstler und mit ihnen die Zuschauer sogleich im Spannungsfeld der Konflikte zwischen US-Interessen, Verbrechen an der kurdischen Bevölkerung sowie den Umtrieben des IS. „In Kirkuk“, heißt es einmal, „riecht es nach Öl.“ Und wo der Komplex der Machtansprüche so existenzielle Dimensionen annimmt, da besitzen Fragen nach dem Klimawandel oder den Verheerungen durch Bohrungen in der Arktis wenig Relevanz.

Der zweite Teil – die Performance „Underground Frontier“ – versucht das Thema dann in postkoloniale Sphären zu weiten, hin zu Fragen wie: Wem gehört das Land, wem der Untergrund, wer besitzt die Ressourcen? Die Performerinnen Maria Walser und Julia B. Laperrière verhandeln sie vor ineinander fließenden Aufnahmen wiederum aus Norwegen und dem Irak, wobei anders als im Film die systemische Verbindung zwischen den beiden Ländern sehr angerissen bleibt. Klar, die Globalisierung lässt alles zirkulieren, nicht nur das Öl. Da fragt man sich schon, was ein Dokumentarspezialist wie Hans-Werner Kroesinger an Erkenntnissen herausdestilliert hätte. Nichtsdestotrotz hat auch dieser Teil seine lichten Momente – etwa, wenn ein Scheich aus Mossul zitiert wird, der angesichts des ersten Ölbooms in weiser Voraussicht gestöhnt haben soll: „Ich wünschte, wir hätten Wasser gefunden.“

Nebulös im wahrsten Sinne schließlich bleibt der Tanz, „An Infinite Ending“. Lea Martini und Julia B. Laperrière schaffen im künstlich zugedampften Ballhaus Ost zwar einige starke Momente von Verausgabung, Anrennen, Gefangensein im Kreislauf – aber ohne den Zusammenhang der Trilogie würden die letztlich in Ratlosigkeit verpuffen. Dabei hat „Empire of Oil“ eine klare Message: das eigene Konsumverhalten und mithin die eigene Abhängigkeit vom begehrtesten Rohstoff der Welt zu hinterfragen.

DER FREITAG

Trilogie zum globalen Rohstoff Erdöl     

Stefan Bock – 31. Mai 2018

ID 10729

Empire of Oil, das klingt ein wenig wie House of Cards oder Game of Thrones. Ein Wirtschafts- oder Ökothriller vielleicht oder sowas wie Monopoly mit Ölbohrtürmen. Mitmachspiele gibt es ja im Theater mittlerweile genug – auch an der kooperierenden Spielstätte Ballhaus Ost. Aber keine Angst, hier muss niemand mittmachen, tanzen, singen oder etwas sagen – so versichert zumindest einer der Performer der offenen Künstlerkollaboration Costa Compagnie zu Beginn des zweiten Teils einer Trilogie, bei der es um den immer noch alles beherrschenden Brennstoff Öl, dem „Blut für die Adern der Weltwirtschaft“, geht. Das ist an sich schon ein mehr als treffendes Bild. Mehr Doku- als Mitmachtheater ist dann dieser Abend, obwohl er durchaus auch einige immersive Momente hat.

Die Costa Compagnie um ihren Gründer Felix Meyer-Christian ist 2017 mit einer 360°-Kamera zu Recherchezwecken in Norwegen und im Irak unterwegs gewesen. Es geht hier natürlich um die globalen Ausmaße der monopolisierten Erdölindustrie, ums große Geld, den Krieg ums schwarze Gold und die ökologischen Folgen der Ölförderung, die mittlerweile nicht nur in der Wüste des mittleren Ostens oder Offshore in den Gewässern vor Norwegen stattfindet, sondern auch in den arktischen Gebieten jenseits der norwegischen Landesgrenzen. Aber besonders auf zwei an Erdöl reiche Gebiete hat sich die Costa Compagnie konzentriert. Man war in der norwegischen Hafenstadt Stavanger, die sich nach den Ölfunden in den 1960er Jahren zu einer modernen Stadt entwickelte, was auch ganz Norwegen zu gewissem sozialen Wohlstand verholfen hat, und in den autonomen Kurdengebieten des Nordiraks mit den in mehreren Kriegen heiß umkämpften Ölzentren Kirkuk und Mossul.

Das filmische Ergebnis der Recherche mit mehreren Interviews mit Bewohnern der Regionen und Werktätigen in der Ölindustrie Norwegens wie im Nordirak, einem ehemaligen US-Soldaten, der am Krieg zum Sturz Saddam Husseins beteiligt war, und einer norwegischen Naturschutzaktivistin ist im ersten Teil des Abends mit dem Titel A Research in 360° (der bereits im November 2017 zum ersten Mal hier gezeigt wurde) zu sehen. Dazu betritt das Publikum auf Socken ein mit Teppich ausgelegtes Oval im Ballhaus-Saal und betrachtet auf Hockern sitzend die 360°-Filmdokumentation, die auf die weißen Begrenzungsleinwände projiziert wird. Neben dem nicht uninteressanten Geschichtsabriss um die durch einen nationalen Ölfonds geregelte Verteilung der norwegischen Einnahmen aus dem Ölgeschäft schlägt der Film natürlich nicht nur eine rein filmische Brücke zu den Verteilungskämpfen um die 1927 entdeckten Ölvorkommen von Kirkuk. Ein damaliger Scheich soll gesagt haben: „Ich wünschte, wir hätten Wasser gefunden.“ Das sagt schon viel zum Nutzen, den die wertvolle Bodenressource den Irakern bisher gebracht hat. Norwegischer Wohlfahrtsstaat gegen ein Gebiet, das seine willkürliche territoriale Prägung durch ehemals koloniale Interessen erfahren hat. Hier prallen seit Jahrzehnten die unterschiedlichsten Konflikte mehr oder weniger offen und kriegerisch ausgetragen aufeinander. Iran-Irak-Krieg, Zweiter und Dritter Golfkrieg, schließlich der IS, und die um Autonomie ringenden Kurden als unliebsamer Spielball immer zwischen den Fronten.

Dass die Macher hier nicht ganz unbewusst auch Partei für die Autonomiebestrebungen der Kurden im Nordirak ergreifen, kann man zumindest in den Gesprächen mit dort lebenden und arbeitenden Kurden und Vertretern anderer Nationalitäten nachvollziehen, da sich innerhalb der kurzzeitigen Autonomiephase während des Kampfes gegen und nach dem Sieg über den IS die Region um Kirkuk wirtschaftlich recht gut entwickelt hat und als Beispiel für ein friedliches Zusammenleben verschiedener Nationalitäten und Religionsgemeinschaften gelten kann. Ein Referendum, bei dem 92 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit stimmten, wurde von der irakischen Zentralregierung nicht anerkannt. Seit Ende 2017 ist das Gebiet nach kurzen Kämpfen mit den kurdischen Peshmerga wieder unter der Kontrolle der irakischen Armee. Das alles und natürlich auch der internationale Kampf von Greenpeace-Aktivisten gegen den Klimawandel in der Arktis wird in den Interviews, die mit den 360° umlaufenden Landschaftsbildern korrespondieren, erzählt. Ein durchaus auch ästhetisch überzeugender Beitrag zur kollektiven Erinnerung der Geschichte um das globale Reich des Öls und seine wirtschaftlichen wie ökologischen Folgen. Als nette Pausenunterhaltung kann man sich im 2. Stock des Hauses einen kurzen Zusammenschnitt als Virtuell-Reality-Film mit entsprechender VR-Brille ansehen und ist für ca. 11 Minuten tatsächlich selbst zumindest virtuell mitten im Geschehen.

Unsere Gleichgültigkeit gegenüber der Herkunft von Produkten und deren Produktionsbedingungen vor Ort, die zumeist einen nicht geringen Einfluss auf den Klimawandel haben, ist letztendlich das große Problem. Was wir nicht wissen, geht uns nichts an. Das Wort „nachhaltig“ fällt zwar nicht im zweiten Teil des Abends, zumindest aber das vom „Konsumverhalten“, an dem wir in Zukunft wohl oder übel arbeiten müssen, auch wenn es hier einmal heißt, dass es kaum ein Zurück gebe und nur der Zeitpunkt der Katastrophe noch offen sei. In der Performance The Underground Frontier, die mehr oder weniger eine Anknüpfung an den ersten Teil mit weiteren Filmbildern und Textbeiträgen ist, vertieft die These des Zusammenhangs der beiden Regionen als unterirdische Grenze und der territorialen wie politischen Überschreibung durch das Öl. Die Geopolitik der Ressourcen mit den Fragen: Wem gehört das Land? Wem gehört der Untergrund? Wem gehören die Rohstoffe?

Wohlstand und Frieden oder Krieg und Flucht. Die Zusammenhänge sind mittlerweile auch in Deutschland spürbar. Das wird hier zweisprachig in Englisch und Deutsch von drei PerformerInnen vorgetragen, ergänzt von zwei Stimmen aus dem Off, die in der dritten Person Interviewpassagen aus dem Film wiederholen. Auch der fragend schauende Killerwal aus dem Bericht eines Offshore-Ingenieurs aus dem ersten Teil taucht wieder auf. Sein staunendes „Was ist das?“ wird per Voice-Verzerrer zu elektronischer Begleitmusik, was etwas bemüht wirkt. Und eine mentale Rückführung des nun auf dem Rücken liegenden Publikums mit einer Person aus ihrer Vergangenheit, mit der es dann im Gedanken in die Grenzregionen des Öls geht, hat etwas merkwürdig Esoterisches, wie auch die anschließende rituelle Ölausgießung.

Noch waberiger wird es im letzten Teil, der Tanzperformance An Infinite Ending, bei der eine Tänzerin minutenlang hektisch mit Armen und Oberkörper kreist und dabei wie ein pausenlos fördernder Ölbohrturm aussieht, während eine zweite Tänzerin sich zunächst kaum bewegt. Man kann das vielleicht als ein Gegenüber von einer Ausgeglichenheit mit der Natur und dem unaufhörlich fortschreitenden Raubbau empfinden. Die unausweichliche Katastrophe wird mit Trockeneisnebel simuliert, bis kaum noch etwas im Raum zu sehen ist. Und trotzdem geht das ekstatisch Wedeln immer weiter. Besser lässt sich die Bilateralität von Mensch und Natur wohl nicht darstellen.

Produktion: EMPIRE OF OIL / Part 2: The Underground Frontier

TAZ, 03. Februar 2018

Zur Förderung des Profits

Performative Fragen zu einem Rohstoff, der die Welt am Laufen hält – und dabei auch in Aufruhr bringt. Die Costa Compagnie im Ballhaus Ost mit „The Underground Frontier“, dem 2. Teil von „Empire of Oil“

Von Julika Bickel

Auf Socken tritt man durch den Vorhang hindurch, setzt sich auf den lila Teppich oder eines der Kissen. Der Vorhang bildet einen ovalförmigen Raum und dient gleichzeitig als Leinwand.

Man befindet sich auf einem Schiff. Um einen herum sieht man die Weite des Meeres und die Gischt, die das fahrende Schiff als Schweif im Wasser hinterlässt. Drei PerformerInnen kommen hinzu, sie halten einen Vortrag über die „Underground Frontier“. Sie wollen wissen, wo das Öl herkommt. Sie fragen: Wer besitzt das, was unter unseren Füßen liegt? Wem gehören die Schätze? Man sieht Drohnenbilder von Bohrinseln, die wie gestrandete Raumschiffe aussehen. Die Aufnahmen sind in Farbe getaucht, verfremdet, mal sind sie pink, dann gelb, dann grün. Im nächsten Moment ist man in einer zerstörten Stadt. Um einen herum stehen Ruinen von Häusern. Es erscheint ein Feuer, das aus einer Gasfackel auf einem Ölfeld kommt.

Diese Performance feierte am Donnerstag im Ballhaus Ost Premiere: „The Underground Frontier“. Das Stück ist der zweite Teil von „Empire of Oil“, einem vierteiligen Rechercheprojekt der Costa Compagnie.

Zur Recherche ist Felix Meyer-Christian, der Gründer dieser interdisziplinär arbeitenden Gruppe, nach Norwegen und in den Nordirak gereist, hat mit einer 360-Grad-Kamera gefilmt und mit den Menschen vor Ort gesprochen.

Öl und der damit zusammenhängende Klimawandel seien die derzeit größte Herausforderung der Menschheit, sagt der Theatermacher. „Es gibt nichts anderes, was das Leben auf dem Planeten so entscheidend beeinflussen wird, wie die Veränderungen, die jetzt ausgelöst werden und die bald immer stärker werden.“

Es sind beeindruckende Bilder, die einen mit „The Underground Frontier“ im Ballhaus Ost umschließen: Aufnahmen aus der Luft über arktischen Gewässern oder mitten zwischen Menschen auf einer Straße in Mossul. Dazu ertönen lang anhaltende, dunkle Klänge, die einen noch stärker in die Umgebung hineinziehen. Manchmal wirkt dieses immersive Bühnengeschehen bedrohlich, dann wieder mystisch, gar magisch.

Die Trennung zwischen Bühne und Publikum ist komplett aufgelöst. Die drei PerformerInnen gehen zwischen den sitzenden ZuschauerInnen umher, während sie ihren Vortrag auf Deutsch und Englisch halten. Ihr Auftritt hat etwas Komisches an sich, weil er so gewollt eingeprobt wirkt: der auswendig gelernte Text, die einstudierte Dramatik, das höfliche Lächeln, wie das Mikrofon nach einer kleinen Tanzeinlage wie zufällig am richtigen Ort liegt.

Dazwischen folgen abstrakte und langwierige Gedankenströme aus dem Off in indirekter Rede, denen man nicht immer folgen kann. Die Passagen verdeutlichen aber auch die Komplexität der Zusammenhänge. „Das Thema ist so unglaublich ungreifbar“, sagt Meyer-Christian. Unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Klimawandel beruhe darauf, dass wir nicht sehen, wo das Öl herkommt und wo es hinführt.

Mit konkreten Szenarien und Menschen will er das Thema in seiner Performance sichtbar machen. Die Rundumaufnahmen ermöglichen eine größere Autonomie des Blicks. Man kann sich umschauen, die Distanz wird verringert.

Nach einem 360-Grad-Video-Essay (das vergangenen November Premiere im Ballhaus Ost hatte) und diesem zweiten, textbasierten Teil des Rechercheprojekts sollen im Mai noch eine Tanzperformance, die sich dem Thema auf rein körperlicher Ebene widmet, und ein dann online gestellter Virtual-Reality-Film folgen. So werden die Filmaufnahmen sowie die dokumentierten Performances für Menschen auf der ganzen Welt erlebbar.

Norwegen und Nordirak sind zwei Regionen mit großen Ölressourcen – der einen hat es Wohlstand und sozialstaatlichen Frieden beschert, der anderen Krieg und Flucht. In Mossul und Kirkuk war Meyer-Christian im September 2017 zur Zeit des kurdischen Referendums, das stark mit der Hoffnung auf Gewinne aus dem Ölgeschäft verbunden war.

Vor Ort interviewte er Ölbohrer, Manager, Politiker, Journalisten und Greenpeace-Aktivisten. Die InterviewpartnerInnen erscheinen in der Performance groß auf dem Vorhang und schauen einen stumm an, während die PerformerInnen sie in indirekter Rede zitieren.

Die Aussagen werden als Song von einem Performer wiederholt. Er spielt Keyboard und singt durch ein Mikro, das seine Stimme elektronisch verzerrt: „They are looking at you / killer whales, killer whales / what is this?“ und „You can like or dislike oil and gas / you become a prostitute / you do what you do for the money.“

Norwegen ist der nach Russland wichtigste Öl- und Gaslieferant Deutschlands. Für Meyer-Christian ist das skandinavische Land der Inbegriff der westlichen, heuchlerischen Lebensweise. Selbst setzt das Land stark auf erneuerbare Energien, macht jedoch viel Profit, indem es Öl ins Ausland verkauft.

Wie stark unser Konsumverhalten mit dem Klimawandel zusammenhänge, sei ihm vor der Recherche nicht bewusst gewesen. Es gibt nicht den einen Verantwortlichen, sagt Meyer-Christian. „Wir sind alle Verursacher und zukünftige Betroffene gleichzeitig.“

Am Ende der Performance sollen sich alle mit geschlossenen Augen auf den Boden legen. Es ist ein Experiment, so die drei Vortragenden. Sie schicken einen auf eine emotionale Gedankenreise. Zusammen mit einer einem nahestehenden Person soll man sich auf die Flucht begeben. Und alles steht unter Wasser.

Produktion: EMPIRE OF OIL / Part 1: A Research in 360°

ZITTY, 22. November 2017

Fluch und Segen

Die interdisziplinär arbeitende Costa Compagnie erforscht in „Empire of Oil“ im Ballhaus Ost auf innovative Weise, wie Gesellschaften durchs Öl vergiftet werden – und wie man das zumindest dosieren könnte

Meer und Wüste sind nicht nur weite Flächen, auf denen Menschen sich eher ungern aufhalten. In manchem Meeresboden, unter manchem Wüstensand steckt auch das schwarze Gold – ein Fluch und Segen zugleich.

An die ölreiche Küste vor Norwegen und auf den ebenso ölreichen Sand des Nord­iraks hat sich die Costa Compagnie begeben, um vor Ort zu untersuchen, wie der Rohstoff die dortige Bevölkerung prägt. Sie befragte Ölbohrer und Manager aus Skandinavien, war im Büro von kurdischen Politikern, deren Unabhängigkeitsbestrebungen eng mit den erhofften Gewinnen aus dem Ölgeschäft verbunden sind. Diese und andere Interviews sind nun Teil der immersiven Performance „Empire of Oil – A Research in 360°“.

Auch eine Dichterin und ein kritischer Journalist aus dem Nordirak wurden interviewt und die mittlerweile zur Heldin aufgestiegene Greenpeace-Aktivistin Sini Saarela – sie gehörte zu den von Russland eine Zeitlang eingesperrten „Arctic 30“. Die Aussagen der etwa zwei Dutzend Personen werden eingebettet in opulente 360-Grad-Filme, die in einem Rundhorizont im Ballhaus Ost zu sehen sind. Die Filme, teils Drohnenaufnahmen, teils statisch aufgenommen, zeigen Bohrtürme in arktischen Gewässern und im vom Krieg zerstörten Nordirak.

Eine Schlüsselfigur ist dabei der irakische Geologe Farouk Al Kasim. Er kam in den 1960er-Jahren nach Norwegen, auf der Suche nach medizinischer Betreuung für seinen kranken Sohn. Damals begann Norwegen, seine Ölfelder zu erschließen. Al Kasim warnte vor den Fehlern seiner Heimat: Die irakische Elite hatte im Rausch des schnellen Geldes Konzessionen an britische und US-amerikanische Firmen regelrecht verschleudert und steckte die Gewinne, die nicht außer Landes gingen, meist in die eigene Tasche. Norwegens Öl-Staatsfonds, der dem gesamten Land beachtlichen Wohlstand beschert, ist auch Al Kasims Warnungen zu verdanken.

Allerdings stieß Felix Meyer-Chris­tian, Filmemacher und Regisseur der Costa Compagnie, auch im Beispielland Norwegen auf manche Wand des Schweigens; vor allem dann, wenn er nach den globalen Folgen des hübschen Ölgeschäfts der Skandinavier fragte: Klimawandel, Umweltschäden und -zerstörung. „Empire of Oil“ fragt daher auch, warum viele Industrien noch immer auf Öl basieren, und wer daran verdient, obwohl technologisch ein Energiewandel längst möglich wäre.

Zwei Performer interagieren zum Filmgeschehen live mit dem Publikum, das Projekt ist aber auf mehrere Teile angelegt. In weiteren Phasen will die Costa Compagnie im nächsten Jahr die 360-Grad-Filminstallation um eine textbasierte Performance (Premiere 1. Feburar) und später um eine Tanzperformance (Premiere 23. Mai) erweitern.

Das alles soll ebenfalls mit einer 360-Grad-Kamera dokumentiert werden und aus dem gesamten Material schließlich eine voll-immersive Virtual Reality-Umgebung entstehen. „Wir wollen herausfinden, was die VR-Technologie für das Theater bedeuten kann“, meint Meyer-Christian. Am 23. November fällt im Ballhaus Ost der Startschuss für das Technologie-Experiment im Dokumentartheater-Kontext. 

Produktion: FASCION & CONVERSION / NACH AFGHANISTAN

BLOG – Performing Arts Festival

„Kunst kann nie Realpolitik sein“

Felix Meyer-Christian macht mit seiner costa compagnie Recherchetheater. Am Mittwoch läuft „CONVERSION / Nach Afghanistan“ zum letzten Mal im Ballhaus Ost. Ein Porträt.

Von Talea Scholz

Berlin 12. Juni 2017

Der Körper des Tänzers hebt sich immer wieder in die Luft, fällt klatschend zu Boden, reißt sich wieder hoch, fällt erneut. Wie ein Fisch, der sich an Land orientierungslos umherwirft, immer im Kreis. Auf die hintere Bühnenwand ist die afghanische Wüste projiziert. Bunte Luftballons liegen herum und geben der beklemmenden Atmosphäre einen abstrakten Ton. Bis auf das Aufschlagen des Körpers ist nichts zu hören.

Ein verwirrendes und bedrückendes Bild aus dem Stück „CONVERSION / Nach Afghanistan“. Nach einer langen Tour durch Deutschland und die USA wird es am Mittwoch im Ballhaus Ost das letzte Mal gezeigt. Geschaffen hat es Felix Meyer-Christian mit KünstlerInnen der costa compagnie. Mit Teilen seiner Gruppe reiste er dreieinhalb Wochen durch Afghanistan, um das Material dafür zu sammeln. Sie haben mit Afghaninnen und Afghanen gesprochen, SoldatInnen, DiplomatInnen, WissenschaftlerInnen befragt. Auf der Bühne entsteht daraus eine Mischung aus Tanz, Performance und Sprechtheater. Eine Ansammlung von ästhetischen und politischen Perspektiven. Wie durch ein Kaleidoskop wird die Situation zerlegt, gespiegelt, umgeworfen.

Ursprünglich wollte Meyer-Christian zur Entwicklungszusammenarbeit. Katastrophenvorsorge. Er studierte Geographie und Völkerrecht in Berlin. Geographie war schon immer sein Ding. Er hat viele Auslandspraktika gemacht, interessiert sich für die globalen Zusammenhänge, ist kritisch, engagiert. Theater war da zunächst nur eine private Leidenschaft: Meyer-Christian spielte neben dem Studium und hospitierte an der Schaubühne.
Nach dem Studium steht er vor der Entscheidung: Soll er eine vielversprechende Stelle in Guatemala annehmen oder das Regiestudium in Hamburg? Zusagen hat er für beides. Entschieden hat er sich für Hamburg, für die Kunst und gegen die Realpolitik: „Kunst wird nie Realpolitik sein“. Wer konkret die Politik mitbestimmen will, meint Meyer-Christian, der muss schon selbst in die Politik gehen oder parallel zur künstlerischen Praxis AktivistIn werden. Die Kunst habe andere Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, aber „die meisten politischen Entwicklungen entscheiden sich innerhalb unserer Kontexte nicht im Theatersaal“

Trotzdem ist er Künstler geworden. Wieso? Die Kunst setzt woanders an. Er möchte die großen Prozesse beschreiben, das kleine Guckloch unserer Wahrnhmung aufreißen und das Bild so komplex wie möglich machen. Denn das ist die große Stärke der Kunst, ästhetische Formen finden, um Blickwinkel zu erweitern, Wahrheiten Raum geben, um die Gesellschaft in ihrem eigenen Selbstverständnis zu stören. Das hat die Kunst der Politik voraus.
Noch während des Studiums gründet Meyer-Christian die costa compagnie, um gemeinsam mit KünstlerInnen verschiedenster Bereiche zusammenzuarbeiten: Tanz, Installation, Bildende Kunst, Sprechtheater. Er will einen möglichst vielseitigen Blick aus allen Richtungen auf das Material werfen. An fast jedem Projekt arbeiten neben dem festen Kern der costa compagnie deshalb auch externe KünstlerInnen mit. Bloß nicht in bekannten Konstellationen einrosten. Dynamisch bleiben. Immer neue Zugänge zu Material und Ästhetik finden.
So entstehen Arbeiten, die immer dicht an der peniblen Recherche bleiben. Die costa compagnie abstrahiert ein Problem nicht. Keine Allgemeinplätze. Keine Allzwecklösungen. Stattdessen bekommen gesellschaftliche Situationen und die Menschen darin eine Bühne.

So wie in „CONVERSION / Nach Afghanistan“. Der Abend beschäftigt sich mit dem ISAF-Einsatz internationaler Truppen in Afghanistan. In unzähligen Interviews sammelt die costa compagnie Bruchstücke einer Gesamtsituation, die in ihrer Komplexität unbegreifbar scheint. Es sind Wahrheiten verschiedener Leben, die doch alle miteinander verstrickt sind. Jede Geschichte gibt einen anderen Blick auf das Geschehen frei. Da sind die SoldatInnen, die versichern, ihr Bestes getan zu haben. Die Deutschen, sehr professionell und distanziert, ohne Namen und Abzeichen. Die Amerikaner, viel offener, selbstbewusster und auch kritischer. Glühende AnhängerInnen der Taliban kommen genauso zu Wort wie junge Feministinnen, für die ein Abzug der SoldatInnen eine Katastrophe bedeutet.
Ihnen allen gibt die costa compagnie Raum und skizziert die Umrisse einer Lebenswelt, die uns Fremd erscheint und doch berührt. Unser westliches Wertesystem kommt an seine Grenzen, zerschellt an der schieren Unbegreiflichkeit der Lage. Wie kann ich eine solche Situation mit meinen Begriffen, meiner Ästhetik und meinen Werten zu begreifen versuchen? Muss ich nicht zwingend scheitern? Für Meyer-Christian liegt darin der Schlüssel seiner Kunst. Er will den Blick erweitern, ohne ihn einzufärben.

Fällt es ihm manchmal schwer, die Interviews mit den Beteiligten eines Konfliktes zu ertragen? Sicher. Aber es sei schließlich sein Beruf. Er muss jeder Stimme ihren Raum geben, das ist etwas Anderes, als in einer Kneipe privat über Meinungen zu streiten. Privatperson und Theatermacher sind bei Meyer-Christian in Interviewsituationen sauber getrennt: „Wir gehen ja als Gast zu den Leuten hin, um ihre Geschichten zu hören. Da kann man nicht plötzlich vorschnellen und einen Streit vom Zaun brechen.“
Ob er mit einem Interviewpartner übereinstimmt oder nicht, ist für ihn irrelevant. Er will keine Meinung machen, sondern die Komplexität der Lage übersetzen. Dazu gehört jede Stimme und ein Interviewer, der sich zurücknehmen kann. Das kann er. Ernst und engagiert erzählt er von den Menschen, die er kennengelernt hat, seinen Kollegen, dem Theater und der Politik – nicht von sich. Felix Meyer-Christian ist kein Moralist, sondern jemand, der gemerkt hat, dass moralische Vorstellungen keineswegs allgemeingültige Weltkonzepte sind. Was hier gilt, gilt nicht zwingend in Afghanistan.

Das nächste Stück handelt übrigens von der zunehmenden Faschistisierung des politischen Klimas. Trump, AfD und Co. Wieder wird die costa compagnie recherchieren, dicht am Material bleiben und gleichzeitig nach einer neuen choreographischen Form suchen. Denn unsere Realität ist viel zu komplex, um sie zu verallgemeinern.

Produktion: CONVERSION / NACH AFGHANISTAN

KRONENZEITUNG, 09. April 2016

Vom Umgang mit Krisengebieten

Von Christoph Hartner

Mehrere Wochen hat die COSTA COMPAGNIE aus Hamburg den Einsatz der deutschen Bundeswehr am Hindukusch begleitet und Stimmen und Bilder zu westlichen Präsenz vor Ort gesammelt. In der Performance „Conversion / Nach Afghanistan“ erweitern sie das Krisengebiet in den Bühnenraum.

Die Deutschen sollten die Taliban vernichten, die guten jedoch am Leben lassen. Dieser Wunsch eines Teenagers aus Kabul bringt die Komplexität der politischen Lage am Hindukusch und der westlichen Präsenz in der Region auf den Punkt. Wo genau liegt die Grenze zwischen Gut und Böse, Normalität und Ausnahmesituation? Welche Spuren hinterlassen die Truppen nach ihrem Abzug? Welche Spuren hinterlässt Afghanistan in den Soldaten?

Zu Fragen wie diesen hat die COSTA COMPAGNIE Stimmen und Bilder in der Region gesammelt und diese zu einer polyphonen Performance verwoben, in der Recherchetheater und Tanz ebenso zum Einsatz kommen wie Soundscapes und Video-Tableaus. Symbolisch holt die Gruppe Afghanistan in den Bühnenraum: Drohnen schweben über den Performern, aufblasbare Stoffbahnen in hoffnungsfrohem Weiß blähen sich bis in den Zuschauerraum.

Und die Truppe macht zuletzt auch ihre eigene Rolle zum Thema. Können und dürfen westliche Künstler für die Menschen Afghanistans sprechen, ohne dabei deren Stimmen zu verfälschen oder in Moral-Kitsch oder in Kunst-Kolonialismus abzugleiten?

Auf fantastische und smarte, wenn auch teilweise ausufernde Weise wird so die Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit im Umgang mit sogenannten Krisengebieten unmittelbar erfahrbar! Als Gast von UniT noch heute im Grazer Theater am Lend zu erleben.

ORF (Österreichischer Rundfunk), 09.04.2016

http://steiermark.orf.at/tv/stories/2767657/

Theater am Lend zeigt Performance-Doku (Textversion zum TV-Bericht des ORF)

Authentische Stimmen zu Wort kommen lassen und neue Eindrücke und Perspektiven vermitteln – das wollen die Künstler der Costa Compagnie mit ihrer Performance „Conversion / Nach Afghanistan“ am Samstag im Grazer Theater am Lend.

Drei Wochen lang waren Künstler der Costa Compagnie am Hindukusch in Afghanistan, um Bild- und Tonmaterial zum Ende des Hilfseinsatzes der internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) zu sammeln. So wurden Einheimische, Journalisten, Diplomaten sowie Soldaten vor Ort befragt und das Material anschließend in eine künstlerische Aufführung übertragen. Die daraus resultierende Performance wurde am Freitag und Samstag im Theater am Lend vorgestellt.

„Wir versuchen in unserer Arbeit auch die Form der Dokumentation generell in Frage zu stellen. Ich glaube nicht, dass ich als Dokumentarist oder auch als Künstler nach Afghanistan reisen und eine Wahrheit oder die wirkliche Realität porträtieren kann. Was ich aber machen kann, ist dort hinzufahren und mit den Menschen vor Ort in Kontakt treten, mit ihnen sprechen und versuchen, ihre Situation für einen kleinen Moment einzufangen“, erklärt der künstlerische Leiter Felix Meyer-Christian.

Und so verbindet die Costa Compagnie in ihrer Inszenierung aufgezeichnete Interviewsituationen und Klänge aus den Straßen Afghanistans mit Choreografien im Bühnenraum: „Was die Kunst angeht, haben wir die Möglichkeit, zwar nicht die Fragen der Politik beantworten zu können – wir sind keine Aktivisten, die sagen, wie es besser geht oder was getan werden muss – aber den Horizont zu öffnen und Fragen zu finden oder zu suchen, wie sie in der Politik eben nicht gestellt werden können“, so Meyer-Christian. Damit nähert sich „Conversion / Nach Afghanistan“ mit einer tiefgründigen Inszenierung künstlerisch komplexen Lebensrealitäten an und animiert zum Nachdenken.

Leserkritik auf nachtkritik.de vom 22.2.2016


http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=7956:leserkritiken&catid=331:leserkritiken-k&Itemid=100084#comment-56446

„Conversion – Nach Afghanistan“ von Costa Compagnie

Gastspiel am Ballhaus Ost am 30.01.2016

Vom 28. bis 31.01. fand in Berlin die Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft zum Thema „Was tun. Politisches Handeln jetzt“ statt. Es wurde viel diskutiert über die Möglichkeiten von Theater in Zeiten politischer Umbrüche, mit spannenden und langweiligen Beiträge und natürlich sehr viel Netzwerkelei. Kaum zuhause angekommen, schluckte einen der Betrieb und natürlich die Diskussion um die Auswahl für das Theatertreffen…
Dabei fiel hinten runter, dass unter all den gelisteten Vorschlägen für Theaterbesuche auch eine Produktion war, die eben jener Frage nach Kunst, Politik und Handeln tiefgründig, mutig und gleichzeitig erfrischend offen am allerkonkretesten nachging, wie es vorher so noch nicht gesehen wurde: „Conversion – Nach Afghanistan“ am völlig überfüllten Ballhaus Ost von der freien Gruppe Costa Compagnie. Ein gut gehütetes Geheimnis und als Nachwuchsgruppe scheinbar noch unter dem Radar der Theaterscouts, wenn auch prominent ausgestattet über den Fonds Doppelpass.
Als Grundlage für diese multiperspektivische Kunstanalyse aus dem Kriegsgebiet mit Text, Tanz, Video, Musik und einer Luft-Installation recherchierten Mitglieder der Gruppe in Afghanistan und interviewten zahlreiche Bewohner der Städte Kabul und Masar Scharif, sowie Soldaten der Bundeswehr und der US-Army in ihren Feldlagern, der brisanten Sicherheitslage zum Trotz. Ein willkommener Vorstoß auf dem Theater, denn oft findet keine Diskussion darüber statt, dass die Deutschland jahrelang im Krieg in Afghanistan beteiligt war und nun nach dem Ende der Mission nicht nur die Soldaten zurück kommen, sondern vor allem auch diejenigen, für welche die Intervention eigentlich ein besseres Zuhause schaffen sollte. Was ist also geschehen und wie sehen das die Afghanen selbst?
Jetzt alles zu berichten, was die costa compagnie an diesem gewaltigen, facettenreichen und bewegenden Abend innerhalb der zwei Stunden leistet ist bei 4000 Zeichen unmöglich. Im Schnelldurchlauf:
Zunächst eine leere Bühne, im Video die Berge Afghanistans, vier Tänzer in energetischen Bewegungen, andere Spieler erscheinen, deutsche und englische Texten der Befragten (Berlin typisch nicht untertitelt), musikalisch alles von Musikerin Katharina Kellermann elektronisch live begleitet, Klang-Atmosphären, Beats, Stimmen, Flugzeugmotoren und Flächen. Man verbringt gebannt die erste Stunde mit Biographien, Frauenrechten, Anschlägen, Entwicklungszusammenarbeit und natürlich den Taliban. Das pointierte Arrangement der Texte schafft es, dass die Themen nebeneinander, als auch zum Streitgespräch gegenüber gestellt werden, so dass man in ein Horizont erweiterndes Meinungsbild eintauchen kann.
Repräsentation wird hier medial an das Video ausgelagert, indem zu den präsentierten Texten riesengroße, schweigend blickende Portraits der Befragten eingeblendet werden (zum Teil auch im Originalton als Teil der Bühnentextsituation). Ein subversives Narrativ einer Begegnung, wie sie nur auf dem Theater stattfinden kann, das auf die im Text gestellten, aktuell brennenden Fragen verweist: Was hat die Intervention im Land (nicht) bewirkt? In welchen Krieg erklärt sich eine westliche Gesellschaft bereit (wieder) zu ziehen? Für wen und für was? Dazwischen intensive Abschnitte im Tanz mit verdrehten und ruckartigen Körpern, ausufernden Bewegungen, Solo- und Gruppenchoreografien, aus denen sich die Tänzer mühelos lösen, um den nächste Befragten vorzustellen (Choreografie Jascha Viehstädt).
Im Video Landschaften, Gebäude, Panzer, Hubschrauber. Begriffe wie Realität, Dokumentation, Wahrheit und Moral werden in einem fortlaufenden Essay-Monolog von Hauke Heumann offen verbalisiert und in Frage gestellt (Text: künstl. Leiter Felix Meyer-Christian). Dann wachsen riesige, weiße Plastikschläuche zu einem dreidimensionalem Chaos, das bis über die Zuschauer hinaus ragt auf der Bühne (Annika Marquardt, Lani Tran Duc) und später entfaltet sich im Hintergrund wie ein überdimensionaler Hefeteig eine große Stoffblase/Zelt der maximal wächst und der Fokus verlegt sich auf die Interviews im Militärlager. Im zweiten Teil brechen die Ebenen dann virtuos durcheinander. :Ein komisch-groteskes Interview in einer Bäckerei, Slow-Motion-Traum-Sequenz, ein zunächst unverständlicher afghanischer Witz mit latent grenzdebilem Übersetzungsverlust, Pocahontas-Sexy-Musical-Einlage, der Konflikt zwischen Besatzung und Aufbau, Kultur, Religion und „Terror“.
Am Ende entweicht die Luft und es bleibt nichts außer einem Stoffrest und einem Wimmelbild mit den sprechenden Köpfen dutzender Befragter, in dem unter anderen ein Afghane die Demokratie als solche in Frage stellt oder ein Ex-Soldat die Militärintervention zunächst schärfstens kritisiert („Können die da oben wirklich gut schlafen?“), um dann im nächsten Augenblick zu sagen, dass sich diese dennoch nicht in Frage stellen lässt, woraufhin er trefflich mit dem Wort „Ambivalenz“ lachend endet.
Die Gruppe selbst bleibt dabei nicht neutral und verweist nach einer klaren Benennung der Problematiken im Land und der Widersprüche des Westens in ihrem Abschlusstext auf die Ungültigkeit einer kapitalistischen Kosten-Nutzen-Rechnung im Kriegsgebiet und fordert ganz utopisch „polyphone Prinzipien“ und eine Neuausrichtung des Denkens innerhalb der eigenen Bewertung, um parallel sehr real-politisch ein Ende der Gewalt einzufordern – „mit welchen Mitteln auch immer“. Wer etwas dringliches von der Welt erfahren will und mehr auf Art“ statt auf „Artivism“ setzt, muss diesen Abend gesehen haben.

Fonds Doppelpass // Kulturstiftung des Bundes // Theater und Orchester Heidelberg
Mannheimer Morgen, 11.05.2015
http://www.morgenweb.de/nachrichten/kultur/regionale-kultur/wirkungsmachtiges-kaleidoskop-der-widerspruche-1.2238544

Performance:

Mit der Uraufführung „Conversion_2. Nach Afghanistan“ zeigt das Theater Heidelberg einen bemerkenswerten Theaterabend

Wirkungsmächtiges Kaleidoskop der Widersprüche

Von Martin Vögele

„Das Herausfordernde an einem Ort wie Afghanistan sei es, dass die schiere Fülle komplexer Widersprüchlichkeit und sich moralisch ausschließender Situationen so überwältigend sei, dass einem gar nichts anderes übrig bleibe, als alles bisher Gedachte über den Haufen zu werfen und eine neues Feld zu eröffnen“, gibt Schauspieler Hauke Heumann das Schreiben einer ungenannten Verfasserin wieder. Auf die Spuren dieser Widersprüche, Hoffnungen, Erfahrungen und Ängste von Bevölkerung und Interims-Bewohnern begibt sich die freie Hamburger Künstlergruppe Costa Compagnie in „Conversion_2. Nach Afghanistan“ – eine im Rahmen des Projekts „Conversion. Eine deutsch-amerikanische Choreographie“ in Zusammenarbeit mit dem Heidelberger Theater entstandene Tanz-Performance, die im Theater Heidelberg uraufgeführt wird.

Kurz bevor im Dezember 2014 der internationale Militäreinsatz in Afghanistan endete, waren der Künstlerische Leiter Felix Meyer-Christian, Choreograph Jascha Viehstädt und Stefan Haehnel (Kamera) zu einer Recherchereise aufgebrochen: In Kabul und Mazar-e-Sharif sprachen sie mit über 30 Afghanen, Bundeswehr- und US-Soldaten, sammelten Ton- und Bildaufnahmen.

Dokumentarische und essayistische Texte, Video-Tableaus, Tanz und Soundkompositionen verdichten sich bei „Conversion_2“ nun zu einer theatralen Reflexion dieser Reise. Meist werden die vielstimmigen Texte von den Performern (Heumann, Hans Fleischmann, Florian Nania, Nanette Waidmann) deklamiert, teils in den original Aufnahmen eingespielt.

Kein bequemer Weg

Vielgestaltig ist auch die Tanzsprache: Frank Koenen, Akemi Nagao, Jascha Viehstädt und Maria Walser changieren zwischen impulsiven Kraftakten, Niedergeworfenheit, rhythmisch-eruptivem Chaos und nach Einklang strebender Synchronizität. Einer der stärksten Momente ist zugleich der verstörendste: Die Tänzer zeigen eine Boygroup-Choreographie, während der Kinderchor des Theaters (der zuvor auch an einer begleitenden Performance-Installation mitgewirkt hat, die in und vor dem Haus präsentiert wurde) mit den Darstellern den für den Disney-Film „Pocahontas“ geschriebenen Song „Colors Of The Wind“ singt.

„Conversion_2“ wählt keinen bequemen Weg – auch nicht für den Zuschauer, der sich mit einer Flut von Positionen und Bildeindrücken konfrontiert sieht (am Ende von Teil I überwuchert etwa ein riesiger, aufgeblasener Plastikschlauch die komplette Bühne); die Costa Compagnie versucht nicht, als Welterklärer aufzutreten. Sie dokumentiert mit künstlerischen Mitteln wirkungsmächtig das Kaleidoskop einer heterogenen afghanischen Gegenwart auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft. Eine bemerkenswerte Leistung. 

Rhein-Neckar-Zeitung Heidelberg, 11.05.2015
http://www.rnz.de/kultur-tipps/kultur-regional_artikel,-Conversion_2-im-Heidelberger-Theater-Afghanistan-quo-vadis-_arid,96878.html

„Conversion_2“ im Heidelberger Theater:

Afghanistan, quo vadis?

Tanz-Performance zur Problematik eines geschundenen Landes
Von Arndt Krödel

„Nichts ist gut in Afghanistan.“ 2010 löste dieser mutige Satz Margot Käßmanns, der damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, in Teilen der Öffentlichkeit harsche Kritik aus. Was die Aussage vielleicht auch bewirkte, war, Dinge zu hinterfragen, um aus gewohnten Mustern herauszukommen. Eben das versucht eine gemeinsame Produktion der „costa compagnie“ aus Hamburg und des Heidelberger Theaters, die unter dem Titel „Conversion_2. Nach Afghanistan“ ihre Uraufführung im Marguerre-Saal erlebte. Die Tanz-Performance ist das zweite Produkt der Kooperation beider Ensembles, die bereits 2014 das Stück „Conversion_1“ herausbrachten, das sich mit dem Abzug der US-Soldaten aus Heidelberg befasste.

Noch bevor der internationale Militäreinsatz in Afghanistan im Dezember 2014 – nach genau 13 Jahren – endete, reisten drei Künstler der costa compagnie an den Hindukusch. Sie machten Interviews mit Einheimischen, aber auch mit Soldaten und fragten nach deren Erfahrungen und Gefühlen in Vergangenheit und Gegenwart. Eine Gegenwart, die sich darauf besinnen muss, dass ihre Koordinaten sich verändern und niemand weiß, wie die Sache ausgeht. Mit der Absicht, neue Formen des dokumentarischen und choreografischen Arbeitens zu erschließen, entstand aus dem mitgebrachten Material eine Tanz-Performance als subjektiv wahrgenommene Momentaufnahme Afghanistans.

Eine Dokumentation im engeren Sinne will und kann das Stück, für dessen Text und künstlerische Leitung Felix Meyer-Christian verantwortlich zeichnet, daher nicht sein. Die sich als „interdisziplinär“ verstehende Performance arbeitet mit den Mitteln des zeitgenössischer Tanzes (Choreographie: Jascha Viehstädt), der Videoprojektion auf verschiedene Flächen und bietet einen teilweise stark überhöhten Sound aus Geräuschen des Alltags und militärischer Aktivitäten sowie Musik. Auch der Alte Saal und das Foyer werden mit Installationen und dem Auftritt des Kinderchors einbezogen, der „Im Frühtau zu Berge“ intoniert.

Auf der Bühne nehmen Schauspieler die Rollen der interviewten Menschen ein, präsentieren sich als Boten aus einer anderen Welt, die sich als vielgestaltig und gegensätzlich, häufig als diffus darstellt. Kritiker(innen) des herkömmlichen Frauenbilds in Afghanistan kommen ebenso zu Wort wie Befürworter der Taliban und der Scharia, Soldaten der Isaf-Truppen ebenso wie Zivilisten. In leidenschaftlichen Tanzsequenzen ahnt man traumatische Erlebnisse, wenn die Akteure in verzweifelten Bewegungen wie gegen eine unsichtbare Wand zu laufen scheinen.

Etwas erschlagen entlässt einen diese Inszenierung, bei der im dichten Knäuel der atemlos einander abwechselnden Szenen und Fragmente die Orientierung bisweilen verloren geht. Dennoch: Überdeutlich und eindrucksvoll artikuliert sich am Ende die sorgenvolle Frage: Afghanistan, quo vadis? Es gelingen packende Bilder und eindringliche Momente, vor allem im Tanz, für die dem Hamburg-Heidelberger Ensemble Lob gebührt. Das Publikum zeigte sich mit langem, herzlichem Beifall sehr angetan. 

Produktion: CONVERSION_1

Fonds Doppelpass // Kulturstiftung des Bundes // Theater und Orchester Heidelberg

Rhein-Neckar-Zeitung Heidelberg, 11.07.2014

http://www.rnz.de/kulturregional/00_20140711060000_110714164-Conversion-1-Eine-Aera-ist-beendet-das-Theater.html

Conversion_1: Eine Ära ist beendet, das Theater beginnt

Die Costa Compagnie feierte Premiere im ehemaligen US-Hospital in Heidelberg-Rohrbach.

Von Ingeborg Salomon

Erhellende Geschichtsbetrachtung an ungewöhnlichem Ort: Die Costa Compagnie erforscht die deutsch-amerikanischen Beziehungen in der Turnhalle des ehemaligen US-Hospitals in Heidelberg-Rohrbach.

Turnhallen haben nicht gerade das beste Image: staubig, muffig und oft an ungeliebte Leibesübungen erinnernd. Die Turnhalle des ehemaligen US-Hospitals in Heidelberg-Rohrbach macht da keine Ausnahme. Doch Theater-Macher erobern gerne auch ungewöhnliche Orte, deshalb wird die Turnhalle jetzt bei CONVERSION_1 zur Bühne. Die rund 200 Premierenbesucher sahen sich am Mittwochabend zunächst etwas ratlos an: Stühle gab es keine und Stehen kann mühsam werden. Doch Abhilfe nahte in Form von (mehr oder weniger) stabilen Papphockern, die, per Rollcontainer angekarrt, zudem den Vorteil hatten, mit den Zuschauern durch die Halle zu wandern. Denn einfach sitzen und gucken war gestern, heute wird performed, und dabei sind neben den Besuchern auch die Gedanken ständig in Bewegung, getreu dem antiken Heraklit-Wort: „Alles fließt“.

Bei „Conversion_1“ setzt die Costa Compagnie ganz auf Verschmelzung. Das große Thema ist eine historische Spurensuche: Wie haben die Amerikaner und die Heidelberger sich gegenseitig erlebt? Welche Erinnerungen sind geblieben? Text, Bild, Musik und Tanz überlappen sich, ebenso wie die Sprachen Deutsch und Englisch. Das bedeutet für den Zuschauer, dass er seine Aufmerksamkeit irgendwie bündeln muss, zumal verschiedene Videos auf mehreren mobilen Projektionsflächen zeitgleich ablaufen.

Gedreht wurde in Heidelberg und auf einer Recherchereise in die USA, das Endergebnis – eine „Chogeographie“ – schreitet geographische und zeitliche Räume ab, immer auf der Suche nach der erlebten Erinnerung, die für den Einzelnen die Wirklichkeit darstellt. Doch wie wirklich ist diese Wirklichkeit angesichts historischer Fakten? Obamas kerniges „Yes, we can“ wird da ebenso hinterfragt wie die amerikanische und deutsche Militärpräsenz in Afghanistan, die gerade endet. Kann man aus der Vergangenheit überhaupt Erkenntnisse für die Zukunft ziehen? Oder wiederholt sich Geschichte ohnehin nie? Die Costa Compagnie aus Hamburg stellt diese Fragen sehr deutlich und zeigt in vielen Sequenzen, dass es „die“ historische Wirklichkeit, geschweige denn eine dokumentierte Wahrheit, nicht gibt.

Beispielsweise habe Condoleeza Rice erwartet, dass die Menschen im Irak die amerikanischen Soldaten als Befreier empfangen würden, wie die Deutschen es 1945 getan hatten. Sie hat sich schwer geirrt, wie wir heute wissen.

Der Künstlerische Leiter Felix Meyer-Christian setzt die Mitglieder der Costa Compagnie eindrucksvoll in Szene, besonders die Tanz-Szenen zeugen von großer Professionalität. Die meisten Zuschauer ließen sich auf die Regie-Anweisungen der Gruppe ein: Sie legten sich brav auf den ziemlich kalten Hallenboden, um amerikanische Landschaftsbilder an der Decke zu betrachten, und sie begaben sich widerspruchslos in einen aus weißen Vorhängen installierten Kubus. Abu-Ghuraib lässt grüßen? Oder doch nicht? Nach 110 kurzweiligen Minuten spendeten die Besucher herzlichen Applaus. 2015 folgt „Conversion_2“. 

Ruprecht, Feuilleton, Heidelberger Studentenzeitung
http://www.ruprecht.de/?p=5597

Konversion mal anders

Im vergangenen Jahr zogen die US-Truppen endgültig aus Heidelberg ab. Nun setzt sich das Stadttheater in einem Langzeitprojekt mit dieser Vergangenheit auseinander.

26. Juli 2014
Von Michael Graupner

Aus den Kopfhörern ertönt ein dröhnender Bass. Langsam nimmt er den Rhythmus eines Pulsschlags an. Ein Triangelschlag erklingt. Plötzlich herrscht Stille. „Heidelberg is a beautiful place. I miss it sometimes somehow,” sagt eine ältere männliche Stimme. Der Triangelschlag erklingt erneut, der Bass setzt wieder ein. Ein kräftiger Windstoß wiegt die hochwachsenden Sträucher und Bäume gegen das verlassene Krankenhausgebäude. Es riecht nach Löwenzahn.

Die Atmosphäre ist eine ganz besondere während des Audiowalks „Bilder aus Morgen“ auf dem ehemaligen Gelände des US-Hospitals in Rohrbach. Er ist Teil eines großen Projektes des Theaters Heidelberg: Während die städtebauliche Umwandlung der ehemaligen Kasernengelände in vollem Gange ist, blickt das Stadttheater zurück auf die fast 70 Jahre dauernde Präsenz der US-Streitkräfte.

Zusammen mit der Costa Compagnie, einer Hamburger Künstlergruppe, hat man das Projekt „Conversion – Eine deutsch-amerikanische Cho-Geographie“ initiiert. Die auf zwei Jahre ausgerichtete Kooperation, die erst durch eine Förderung der Kulturstiftung des Bundes ermöglicht wurde, will mit Tanzaufführungen und Installationen die Präsenz des US-Militärs in Heidelberg aufarbeiten. Als Basis dienen Interviews, die von Mitgliedern der Costa Compagnie in Heidelberg, den USA und in Afghanistan durchgeführt wurden.

„Die zentrale Frage des Conversion-Projekts ist: Wie soll man erinnerungskulturell mit diesem historischen Umbruch umgehen?“ sagt Katharina Kellermann, die den Audiowalk konzipiert hat. Ihr war es wichtig, nicht nur die Heidelberger zu fragen, welche Erinnerungen sie an diese Zeit haben. Dieses Mal standen die Amerikaner im Vordergrund. Fast alle haben für einen gewisse Zeit auf den Militärflächen gelebt.

Zu Beginn der Audiotour erhält man einen MP3-Player, Kopfhörer und eine Karte, auf der die Route gekennzeichnet ist. Drückt man auf „Play“, ertönt der Pulsschlag. Amerikaner berichten über die Kirche, die man als erstes passiert, die Turnhalle, in der sie spielten. Dann gelangt man zum Krankenhaus. Die Sirene eines Krankenwagens erklingt. Doch auch eigene Wege sind möglich: Während über die Kopfhörer Protestsongs gegen den Vietnamkrieg laufen, kann man in die teilweise leer stehenden Kellergewölbe einzelner Baracken klettern.

So gelingt der Audiowalk vor allem deshalb, weil er eine perfekte Symbiose aus dem leerstehenden Gelände, den einzelnen Stationen und der durch die Natur hervorgerufenen Atmosphäre entwickelt. Nach zwanzig Minuten steht man vor einer freien Wiese, Lautsprecherboxen ragen aus dem Gras. Der Blick wendet sich nun nicht mehr zurück, sondern nach vorn: Soll es ein Denkmal geben, um an die amerikanische Präsenz zu erinnern? Die Antworten fallen unterschiedlich aus.

Die Denkmaldebatte spielt aber beim Conversion-Projekt nur am Rande eine Rolle. Zumindest die um ein festes, statisches. „Erinnerung sollte viel mehr als ein Moment der Teilhabe betrachtet werden. Und das Theater eignet sich da besonders gut. Erst durch das Zusammentreffen kann Erinnerung entstehen. Sie wird so zum Ereignis,“ sagt Felix Meyer-Christian, Gründer der costa compagnie, während einer Podiumsdiskussion im Theater Heidelberg.

An diesem Abend geht es vor allem darum, das Conversion-Projekt auch wissenschaftlich zu rechtfertigen. So sitzen neben Meyer-Christian und Kellermann auch drei Historiker auf dem Podium. Dürfen Theaterkünstler Geschichte schreiben? Eine Frage, die die anwesenden Historiker bejahen. „Die Geschichtswissenschaft sollte eine gewisse Offenheit gegenüber anderen Darbietungsformen zeigen,“ sagt Martin Klimke, Geschichtsprofessor an der New York University in Abu Dhabi. „Gerade das Conversion-Projekt mit seinen Zeitzeugengesprächen bietet da eine ganz hervorragende Plattform.“ Felix Meyer-Christian war selbst mit in den USA und hat die Gespräche geführt. Für ihn haben sich an vielen Stellen Parallelen in der Arbeit des Historikers und des Theaterkünstlers ergeben: „Bei der Auswertung der Interviews mussten wir uns von diesen Distanzieren und wurden dann aber gleichzeitig bei der Auswahl der Abschnitte wieder zu Akteuren. So stellten wir uns die Frage: Welche Erzählung entwirft man von Zeitgeschichte?“ Der Großteil der Interviews wurde dann nicht nur für den Audiowalk verwendet, sondern vor allem für die Tanzperformance „Conversion_1“, die dieser Tage in der Turnhalle des ehemaligen US-Hospital-Geländes aufgeführt wurde.

Beim Betreten der Halle herrscht zunächst Verwunderung: Bis auf ein paar Projektoren und Leinwände ist sie fast komplett leer. Wo sind die Stühle, wo ist die Bühne? Zumindest kleine Hocker werden auf einem Wagen angefahren. Als nach ein paar Minuten die ersten Zuschauer unruhig hin und her rutschen, erfolgt die erste Aufforderung, sich diagonal zur Turnhallenmarkierung zu platzieren. Es wird nicht die letzte Anweisung an diesem Abend sein. Die Aufführung bietet insgesamt eine atemberaubende Mischung aus Tanz, Musik und Video. Die geführten Interviews werden vorgelesen, auf Leinwänden gezeigt und tänzerisch umgesetzt. Der Fokus richtet sich dabei nicht mehr so sehr auf die Anwesenheit der Amerikaner in Heidelberg. Im Laufe des Abends wird auch immer wieder die amerikanische Militärpräsenz in Afghanistan und im Irak thematisiert.

Ist es dieser Aspekt, der einige Heidelberger nach etwa einer Stunde zum Verlassen der Halle treibt? Oder wohl doch eher die Anweisung, sich auf den Hallenboden zu legen? Nach kurzem Zögern folgen die meisten aber doch. Auf die untere Seite des Hallendachs werden Bilder einer kleinen Drohne projiziert, welche die Künstler in den USA und in Heidelberg aufgenommen haben. Am Ende steht man mitten in der Halle und ist umgeben von vier quadratisch von der Decke herunterhängenden weißen Vorhängen. Das Licht geht aus und dem Zuschauer bleibt nichts anderes übrig, als zu applaudieren.

Der Costa Compagnie und dem Theater ist es gelungen, die Heidelberger Geschichte der US-Streitkräfte der Öffentlichkeit wieder ins Gedächtnis zu bringen. Fortsetzung folgt: Im Oktober gibt es eine Wiederaufnahme des Stücks und des Audiowalks, im nächsten Jahr folgt „Conversion_2“. Dann geht es um Afghanistan. 

Rhein-Neckar-Zeitung
http://www.rnz.de/heidelberg/00_20140616060000_110696358-Konversionsgeschichte-im-Gehen-Passt-gut-auf-d.html#ad-image-1

Konversionsgeschichte im Gehen: „Passt gut auf das Gelände auf“

Bei einer Audio-Tour über das Hospital-Gelände hörten die Teilnehmer amerikanische Erinnerungen

16.06.2014
Von Steffen Blatt

Das war eine der ungewöhnlichsten Theaterproduktionen der letzten Jahre: Im Auftrag der Städtischen Bühne konzipierte die Hamburger ‚Costa Compagnie‘ eine Art Hörspiel, das am Freitagabend die Besucher über das Gelände des ehemaligen US-Hospitals in Rohrbach führte

Der Andrang war groß, als das Hospital-Gelände in Rohrbach-Süd am 15. November 2013 zum ersten Mal seit dem Abzug der US-Armee für die Öffentlichkeit zugänglich war. Damals gab es Führungen und Fakten. Am Wochenende konnten sich die Heidelberger dem Areal auf ganz andere Weise nähern – bei einer Audio-Tour, bei der Menschen erzählten, die früher dort stationiert waren.

Die „Costa Compagnie“, ein Künstlerkollektiv aus Hamburg, setzt sich im Auftrag des Heidelberger Theaters mit dem Thema Konversion, also der Nachnutzung der ehemaligen US-Flächen, auseinander. Die Mitglieder sprachen mit ehemals in Heidelberg stationierten Soldaten und ihren Familien, mit hochrangigen Militärs, Wissenschaftlern, Polit-Aktivisten, Militärgeistlichen, flogen dafür eigens in die USA. Die Interviewten sprachen über ihr Leben während der US-Militärzeit, über Begegnungen mit der jeweils anderen Kultur, über Skepsis und Annäherung. Die Rechercheergebnisse fließen in eine große Aufführung ein, die unter dem Titel „Conversion_1“ im Juli in der Turnhalle auf dem Hospital-Gelände Premiere hat. Katharina Kellermann, die Audio-Künstlerin der „Costa Compagnie“, entwarf zusätzlich eine Audio-Tour, bei der die Besucher am Wochenende das Areal erkunden konnten. Dabei hörten sie Originaldokumente, Musik und Klänge – eine Art Hörspiel im Gehen.

Start ist am ehemaligen Checkpoint am Eingang des Geländes. Jeder bekommt eine Karte, auf der die Route eingezeichnet ist, einen MP3-Player und einen Kopfhörer. Ein Druck auf „Start“, und es ist ein Pulsschlag zu hören. Dann erzählen die Amerikaner, über die Kirche gleich am Eingang, in der Katholiken, Protestanten und Juden ihre Gottesdienste feierten. Über die Turnhalle, wo man Gymnastik machte oder die Tochter vom Training abholte. Über das Büro, in dem der Vater arbeitete. Einige wissen alles noch ganz genau, bei anderen sind die Erinnerungen verblasst. Englische und deutsche Sätze der Sprecher verbinden collagenhaft die verschiedenen Statements, Soundeffekte machen sie greifbar: ein startendes Flugzeug, Kirchenglocken, die Sirene eines Krankenwagens, ein Basketball, der auf dem Turnhallenboden geprellt wird. Als es um Proteste der amerikanischen Soldaten gegen den Vietnamkrieg geht, wird der „I-Feel-Like-I’m-Fixin‘-To-Die-Rag“ von Country Joe McDonald eingespielt, ein zynischer Kommentar der Woodstock-Generation, den die GIs auch in Heidelberg hörten.

Und immer wieder der Pulsschlag, der die Tour weiterführt. Schritte auf schmutzigem Asphalt. Sind es die eigenen oder ist es ein Sound? Einen Effekt hatte die „Costa Compagnie“ mit Sicherheit nicht eingeplant: Der Wind, der über das Hospital-Gelände streift, zieht an den Kopfhörern vorbei und erzeugt dieses typische Rauschen, das im Western Einsamkeit symbolisiert – äußerst passend zu dem verlassenen US-Army-Stützpunkt.

Die Statements werden politischer: Einer erzählt vom Wandel der Amerikaner von Besatzern zu Beschützern, vom US-Militär in Deutschland als Außenposten gegen den Ostblock. „Und ab 1990 blieb das US-Militär hier, weil es näher zum Mittleren Osten ist.“ So einfach kann es manchmal sein.

Nach knapp 21 Minuten ist Stille im Kopfhörer, die Teilnehmer stehen vor einer großen Wiese und schauen auf vier Lautsprecherboxen, die im hohen Gras stehen. Jetzt geht es um die Frage nach einem Denkmal, das die amerikanische Präsenz in Heidelberg fassen könnte. Wie soll es aussehen, wo auf dem Gelände könnte es stehen? Die Antworten sind differenziert. Ein Denkmal soll zum Nachdenken anregen, dazu, sich mit Geschichte und unterschiedlichen Kulturen zu beschäftigen. „Nur das kann zukünftige Zerstörungen verhindern“, meint einer. Ein anderer findet, dass es genügen würde, ein, zwei Gebäude zu erhalten. Und zum Schluss hat ein Gesprächspartner noch einen Auftrag für die Heidelberger: „Passt gut auf das Gelände auf. Denn ich will eines Tages zurückkommen und selbst noch einmal drüberlaufen.“ 

Produktion: DIE GROSSE ZOOLOGISCHE PANDEMIE

Staatstheater Mainz

NACHTKRITIK
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=9421:die-grosse-zoologische-pandemie&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40#Kritik

Die große zoologische Pandemie – Die grelle Uraufführung des Einbruchsstücks der Hausautorin Natascha Gangl

Worte wie Nüsse knacken

von Shirin Sojitrawalla
Mainz, 17. April 2014

Es geht, grob gesagt, um (Ein-)Brüche aller Art: um den Wohnungseinbruch wie den Einbruch eines Virus, das Einbrechen einer Beziehung wie den Bruch mit Konventionen, den Zusammenbruch von Systemen wie den Einbruch in fremde Räume etc. pp. In ihrem Text mit dem schön sperrigen Titel „Die große zoologische Pandemie“ umkreist die Mainzer Hausautorin Natascha Gangl ihr Sujet mit spitzfindigem Sprachwitz und jelinekschem Furor. In sechs Kapiteln und einem Abgesang entwickelt Gangl einen ganzen Zoo an Bedeutungen und Verknüpfungen, Referenzen und Assoziationen. Das macht sie pointiert, sprachbewusst und lebensklug. Nicht weniger als der Zustand der kleinen und der großen Welt steht bei ihr auf dem Spiel.

Großmäulig ideenreich

Regisseur Felix Meyer-Christian verteilt ihren Text auf vier Schauspieler, wobei Monika Dortschy als mondänes Fabelwesen am Rande in wechselnden Kostümierungen eindrücklich in Erscheinung tritt. Derweil verausgaben sich, kaspern und turnen die drei anderen, Nora Decker, Stefan Graf und Mathias Spaan, gekonnt durch den ebenso großmäuligen wie ideenreichen Abend. Die entschiedenen Vagheiten des Textes nimmt die spielfreudige Inszenierung als Steilvorlagen und führt das von der Autorin begonnene Spiel mit den Bedeutungsebenen lustvoll fort. Die Bühne auf Deck 3, dem Spielort unterm Dach des Großen Hauses, ist ein weißer Raum, im Hintergrund leuchtet eine weiße Leinwand, die später mit Videoeinspielungen (Jonas Plümke) gefüllt wird.

Diese Videos erweitern den Spielraum; Szenen werden dort fortgeführt, vervollständigt oder auch gedoppelt. So entsteht eine Welt hinter den Spiegeln, wo eine Geisterbraut und ein weißes Kaninchen von fernen oder künftigen Zeiten künden. Davor rast Stefan Graf hochtourig und atemlos von einem Statement ins nächste, gibt Nora Decker die kernig rotwangige Hyperaktive und lässt der springteufelartige Mathias Spaan mit leuchtenden Augen so ziemlich alles mit sich machen.

Als es im Kapitel Krankheit auch um unseren täglichen Tanz um die Gesundheit geht, spannen die drei den Beckenboden an und präsentieren sich in kreischfarbenbunten Tarnanzügen (Kostümrausch: Zahava Rodrigo) als Vorturner der Nation. Dabei knackt der Text immer wieder Worte wie Nüsse und entblößt freudig ihre doppeldeutigen Kerne. Furchtbar und fruchtbar sind bekanntlich nur eine r-Drehung voneinander entfernt, und so gebären die Männer widerlich blutverschmierte Gummitiere, die sie liebhaben wie Menschenaffen. Jeder von ihnen will das Kind sein, und alle wollen mal bemitleidet werden, weswegen sie die Verantwortlichkeiten wechseln, bis Monika Dortschy ein Gutemachtwort spricht und die lieben Kleinen in den Schlaf der Ahnungslosen schickt. Vor den Geburten aber, quasi um das Kapitel Familie gebührend einzuleiten, gibt es noch eine liebevoll geile Knutscherei im menage à trois-Format.

Als Zuschauer versteht man mal gar nichts, mal ahnt mal alles. Das geht zwar nicht die ganzen zwei Stunden lang gut, die es währt, aber was geht schon zwei Stunden lang nur gut? Der Abend besticht auf jeden Fall immer wieder mit seiner unbändigen Unterhaltsamkeit, die den unterschiedlichen Temperaturen des Textes gerecht wird und gleichzeitig über die Vorlage hinausweist. Dabei gebiert die Inszenierung ganz eigene Bilderwelten, die zwischen Wirklichkeit und Traum delirieren.

Zu Beginn haben alle Zuschauer zudem einen weißen Schutzanzug erhalten, den die meisten auch brav übergestreift haben. Bis zum Ende fragt man sich, was das Ganze soll, doch später werden zusätzlich noch Masken verteilt und alle, die zuvor im Dunklen saßen, strömen nun ins Helle auf die Bühne, wo dichter Nebel empor dampft und klaustrophobische Einsamkeit auslöst. Wer sich umblickt, fühlt sich zu gleichen Teilen in der Masse geborgen wie verloren. Überall verschiedenartig Gleichgesichtige, die auch nicht wissen, wohin. Wer wieder im Zuschauerraum Platz nimmt, sieht sich einer gespenstisch glotzenden Engelsschar gegenüber; ein stumm staunender Schlusschor, der dem Abend ein hübsches Krönchen aufsetzt.

„Felix Meyer-Christian betont den flotten Rhythmus noch, wenn er seine formidablen Darsteller wie eine hyperaktive Turnmannschaft durch den weißen Raum toben lässt. (…) Diese Aufgeregtheit ist sehr unterhaltsam anzuschauen, wenngleich man nicht immer allen Wortverdrehungen, Doppeldeutigkeiten und Assoziationen folgen kann.“
Christian Friedrich, FAZ Rhein-Main, 19. April 2014

„Er [Felix Meyer-Christian] nimmt die Vorlage als Sprachpartitur und lässt das Ensemble damit regelrecht rocken. (…) Was Nora Decker, Mathias Spaan und Stefan Graf an Kabarett, Clownerie und Zirkusartistik aufführen, ist mitreißend – eine Power-Performance, bei der selbst verschwurbelte Gedanken mit enormer Dringlichkeit dargeboten werden.“
Stefan Benz, ECHO, 23. April 2014 

Produktion: FUKUSHIMA, MY LOVE

Fleetstreet Theater Hamburg Residency Program
Gastspiele am Theater Bremen (Outnow), Nationaltheater Weimar (Kesselsaal), Thalia Theater Hamburg (150% Prozent), Theater und Orchester Heidelberg (Doppelpass)

Rhein-Neckar-Zeitung, 04.10.2013

Fukushima, my love„: Die dritte Atombombe für Japan

von Heribert Vogt

Ein Theaterabend, der einem wirklich die Schuhe auszieht. Zunächst im direkten Sinn, denn vor Betreten der Spielstätte müssen die Besucher nach japanischer Sitte ihre Schuhe abstellen. Aber dann zieht die Aufführung „Fukushima, my love“ dem Besucher auch insofern „die Schuhe aus“, als sie die massenmedial verbreiteten – und schon gewohnten – Bilder von der Atomkatastrophe in Japan durchbricht und ihre schrecklichen Auswirkungen ganz nah herankommen lässt.

Mit dieser eindrucksvollen Tanz-Performance stellte sich die Hamburger „costa compagnie“ erstmals als Kooperationspartner des Heidelberger Theaters vor. Denn das Gastspiel bildete den Auftakt des zweijährigen gemeinsamen Projekts „Conversion“, das die vergangene Präsenz der Amerikaner in Heidelberg mit einer Reihe von Bühnenarbeiten untersucht. Gefördert wird diese Zusammenarbeit durch den Fonds Doppelpass der Bundeskulturstiftung.

Einen Vorgeschmack auf ihr „Konzept einer Archäologie der Gegenwart“ gab die Theaterformation jetzt mit der „Fukushima“-Inszenierung von Felix Meyer-Christian. Denn aus der alltäglichen Wahrnehmung „ausgegraben“ wurde die weitgehend verdrängte tödliche Dimension der atomaren Havarie. Nachdem man die Schuhe ausgezogen hat, betritt man eine andere Welt, die nichts mehr mit dem Alltag da draußen zu tun hat. Man befindet sich in einem großen, ganz in weiß gehaltenen rechteckigen Raum mit hohen Wänden, der fast leer ist. Nur ebenfalls weiße Styropor-Würfel bieten den Zuschauern mobile Sitzgelegenheiten.

Aber diese Welt ist nicht nur unwirtlich, sondern offenbar auch ganz aus den Fugen geraten, wie der wiederum weiße Boden andeutet (Bühnenraum: Anika Marquardt / Lani Tran-Duc). Er ist nicht eben, sondern besteht aus zahlreichen rechteckigen Flächen ganz unterschiedlicher Höhen – als hätte eine dunkle Macht die begehbare Oberfläche komplett verschoben. Irgendwo in der Mitte dieser Bodenflächen ist ein leeres Loch ausgespart, das für die unheilvollen Abgründe des Nuklearunglücks stehen mag.

Zu den einprägsamsten Szenen des Abends zählt das schon fast laokoon-artig verstrickt wirkende Miteinander von vier Akteuren, die sich dagegen wehren, in diesen Abgrund hineingezogen zu werden. Die drei Tänzer Signe Koefoed, Robert Bell und Jascha Viehstädt sowie die beiden Performer Maria Walser und Dennis Pörtner sind ansonsten fast immer isoliert unterwegs oder führen in zergliederten Aktionen synchrone, maschinell wirkende Bewegungen aus. Dabei tragen sie lockere Alltagskleidung mit wenigen japantypischen Akzenten (Kostüm und Bühnenraum: Anika Marquardt/Lani Tran-Duc).

Alle Sinnzusammenhänge sind hier zersprengt, und ihre Bruchstücke werden im steril wirkenden Raum der Aufführung disparat montiert. Dazu zählen etwa die so unwegsam arrangierten Bodenflächen, aber der Theaterabend konfrontiert noch mit ganz anderen Bruchstücken: mit Textflächen aus japanischer Mythologie und Literatur, fremdartig wirkenden Klangflächen (Musik und Sounddesign: Katharina Kellermann), riesigen Videoflächen aus dem japanischen Alltag auf zwei gegenüberliegenden Wänden (Video: Jonas Plümke) und eben auch so fremdartigen wie faszinierenden Bewegungsflächen der Akteure.

Für diese große Bühnencollage, in der auch die Zuschauer unterwegs sind, hat die Theatergruppe anderthalb Jahre nach der Fukushima-Katastrophe in Japan recherchiert und dokumentarisches Material gesammelt. In dem dargebotenen Sinnenrausch transportiert es ein eigenständiges Bild des fernen Inselstaats und seines Umgangs mit der letztlich unsagbaren Bedrohung. Nur ahnen lassen sich die Gefahren durch Verstrahlung etwa für Leib und Leben von Kindern oder jungen Frauen in der Umgebung des Atomkraftwerks. Und häu-fig kommt Hiroshima zur Sprache, dessen Leid heute kaum noch in Worte gefasst werden kann. So wird denn auch einmal Fukushima nach Hiroshima und Nagasaki als „dritte Atombombe“ für Japan bezeichnet.

Unfassbar und unsichtbar bleibt die verheerende Strahlung letztlich auch an diesem knapp zweistündigen Abend. Aber die zeitarchäologische Annäherung an den glühenden Kern der Katastrophe durch die Hamburger Gäste sorgte doch für eine ganz erhebliche Sensibilisierung hinsichtlich der fatalen Konsequenzen – denn man fühlte sich doch stark an das nahe Tschernobyl von 1986 erinnert.

Nun darf man gespannt sein, was die neue Kooperation zwischen Heidelberg und Hamburg zur fast 70-jährigen Präsenz der Amerikaner auf der Bühne zutage fördert. 

Die Welt, 19.01.13

Japanischer Atomschmerz
Fukushima-Performance der Costa Compagnie im Fleetstreet Theater

Von Stefan Grund

Diese Performance erhellt den Schatten, den sie vorauswirft. „Fukushima, my love“ hat Theatertruppen-Leiter Felix Meyer-Christian sein Stück genannt, eine Anspielung auf den Film „Hiroshima, mon amour“, den Regisseur Alain Resnais nach dem Buch von Marguerite Duras 1959 ins Kino brachte. Duras und Resnais näherten sich der Zerstörung Hiroshimas durch die Atombombe künstlerisch über den Spiegel einer Liebesgeschichte. Meyer-Christian und seine Costa Compagnie treten von heute an im Fleetstreet-Theater in der Admiralitätsstraße umsichtig und künstlerisch vielschichtig an die Dreifachkatastrophe von Fukushima und ihre Folgen heran – und schlagen den Bogen zu Hiroshima.

Das Erdbeben, der Tsunami und die Zerstörung der Atommeiler in Fukushima liegen anderthalb Jahre zurück. Sieben Tänzer, Performer, Musiker und Videokünstler, machen diverse Erfahrungen mit Blick auf die Katastrophe für 45 Zuschauer pro Abend nachfühlbar. „Sinnlich-essayistisch“ soll laut Untertitel erzählt werden. Dabei greift das Stück auf Videomaterial zurück, das Meyer-Christian im Oktober vergangenen Jahres auf einer dreiwöchigen Recherche-Tour durch Japan aufzeichnete. Anschließend begann er damit, auf der Basis von 35 gefilmten Interviews, den Theatertext zu schreiben. Im Dezember erarbeitete der Absolvent des Hamburger Regiestudiengangs dann gemeinsam mit der vollen Besetzung von 14 Beteiligten die Performance.

Das zentrale, klassische Erzählelement des Abends ist der Botenbericht aus dem antiken Theater. Was der moderne Bote aus dem heutigen Japan mitbringt, ist neben den messbaren Folgen der Verstrahlung der Versuch, den gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen Fukushima im Land der Betroffenen zu begreifen. „Im Gegensatz zum Westen, wo das Individuum im Mittelpunkt aller Überlegungen steht, empfindet sich der Japaner zunächst als dienendes Mitglied der Gemeinschaft und denkt von außen nach innen“, erzählt Meyer-Christian, „wobei die Reihenfolge der Überlegungen folgende ist: Was bedeutet das erstens für mein Land, zweitens für meine Region, drittens für meine Nachbarschaft und Familie und viertens für mein berufliches Umfeld. Erst danach gestattet der Japaner es sich, an sich selbst zu denken.“ Alle Überlegungen seien dabei eng mit den alltagsprägenden Religionen Shinto und Buddhismus verknüpft, so der Autor, selbst die Geschichtsschreibung sei erzählend und den im Alltag gegenwärtigen Mythen verbunden.

Aktivisten gegen die Atomenergie gerieten leicht ins soziale Abseits, berichtet der Autor von seiner Reise. So habe er einen Mann kennengelernt, der es Kindern aus stark verstrahlten Gebieten in Fukushima ermöglicht, für einem Monat im Jahr die Stadt zu verlassen und damit der Strahlung zu entkommen. Von Professoren der städtischen Universität wurde dieser Mann deshalb als regierungskritisches Subjekt betrachtet, dem man sich mit Vorsicht zu nähern habe. Dennoch gebe es gerade unter Studenten Protest nach westlichem Muster, insgesamt nicht mehr als die Keimzelle einer Anti-AKW-Bewegung, die jedoch auf dem betroffenen Land um Fukushima herum kaum Resonanz fände. Die Studenten unterstützten Meyer-Christian bei seiner Recherche. Eine Studentin dolmetschte, denn auf dem Land, auch im Gebiet in der 20-Kilometer-Sperrzone um die Reaktoren herum, spricht kaum jemand Englisch oder gar Deutsch.

Die dramatische Lage vor Ort, die kulturellen Unterschiede in der Bewältigung sollen nun in der rund zweistündigen Performance (ohne Pause) dem Publikum vermittelt werden. Dabei setzt die Costa Compagnie auf die Gleichberechtigung von Tanz und essayistischem Text. Sie folgt in ihrer Arbeit der grundsätzlichen Fragestellung: „Was ist der Mensch in der Katastrophe?“, die hier konkretisiert lautet: „Was ist der Japaner in der Katastrophe?“

Ganz bewusst hat sich Meyer-Christian, der hier nicht als Regisseur, sondern neben seiner Funktion als Autor als Gestalter im Gespräch mit der Compagnie auftritt, vor seiner Arbeit keine anderen Tanztheater-Produktionen oder Performances, beispielsweise aus Tokio, zum Thema Fukushima angesehen. Auch Elfriede Jelineks Drama „Kein Licht“, das Fukushima-Stück der Literaturnobelpreisträgerin, das die kommende Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier 2011 in Köln uraufführte, habe er bewusst nicht vorher gelesen, um sein Denken nicht in vorbestimmte Bahnen lenken zu lassen, erzählt Meyer-Christian.

Vor der heutigen Premiere bereiteten sich alle am Stück Beteiligten mit einer 72-stündigen „Archäologie“ im Theater (inklusive Übernachtung im Schlafsack) auf die Aufführung vor, um im Sinne einer „Archäologie der Gegenwart“ weitere Aspekte des Themas freizulegen. Ermöglicht wurde die Produktion durch ein Stipendium des Fleetstreet Resident Program, von der Kulturbehörde, der Hamburgischen Kulturstiftung und der Rudolf Augstein Stiftung. 

Now!Out, 10.06.2013
the daily Paper of the OUTNOW! festival 2013

FUKUSHIMA, MY LOVE

Im Kleinen Haus des Theaters Bremen erinnert die costa compagnie an das Reaktorunglück in Fukushima und bringt dem Publikum die japanische Kultur näher

von Carolin Nieder

Japan erlebte im zweiten Weltkrieg zwei atomare Angriffe auf Hiroshima und Nagasaki durch die USA. Als dritte Atombombe gilt der Super-GAU in Fukushima. Eine japanische Metapher für diese Bomben ist Godzilla. Auch er findet seinen Weg auf die Bühne von „Fukushima, my love“.

Die costa compagnie vermittelt in „Fukushima, my love“ Ansätze, um das japanische Unglück besser verstehen zu können. Was ist der Mensch in der Katastrophe? Felix Meyer-Christian, Gründer der costa compagnie, wollte es wissen und reiste im Oktober 2012 nach Japan. Er kam mit Interviews, Geschichten und Aufnahmen zurück, die als Grundlage für „Fukushima, my love“ dienen. Tanz, Installation, Theater, Video und Musik sind zu einer rund 110-minütigen Performance verknüpft, die ihren Reiz nicht zuletzt aus dem interessanten Raumkonzept bezieht. Das Publikum befindet sich auf der Bühne und wird durch Standortwechsel Teil einer situativen Installation.

Eine wichtige Erkenntnis, die das Stück vermittelt, ist die Stärke, die der Mensch durch Zusammenarbeit erfährt. „Das Kollektiv findet seine Erfüllung in der Katastrophe“, in der sich das Individuum auflöst. Ein Teil der Frage, was der Mensch in der Katastrophe sei, wird dadurch beantwortet. Doch „für eine Frage gibt es kein Ende“, denn alles erscheint zu komplex und eine jede Zukunft ungewiss, dass man für eine Frage keine endgültige Antwort findet.

Die Namensgebung des Stücks hätte nicht treffender sein können. „Fukushima, my love“ zieht eine Parallele zu dem Film „Hiroshima, mon amour“. Neben Fukushima spielt Hiroshima in dem Stück der costa compagnie eine große Rolle. Eine Mischung aus Mythologie, Wissenschaft und Realität macht das Stück zu einem bunten, aber auch bedrückenden Erlebnis. Doch vor allem Hoffnung wird in „Fukushima, my love“ deutlich. Die Interviews sind so gewählt, dass Stärke und Zuversicht mitschwingen. Durch die Bewegungen der drei Tänzer wird dieser Eindruck noch verstärkt. Trotz großem Kraftaufwand wird nicht aufgegeben. „Fukushima, my love“ vermittelt kunstvoll Wissen, Gefühl und Verständnis zu Fukushima und der japanischen Kultur. Besonders hervorzuheben ist die Leistung des Ensembles, das das Publikum durch teils waghalsige Darbietungen in Spannung versetzt. Eine vermittelnde Performance der Extraklasse! 

Produktion: DIE GROSSE ZOOLOGISCHE PANDEMIE (Werkstattinszenierung)

Staatstheater Mainz

Mainzer-Rhein-Zeitung, 23.09.2012

Auf Deck 3 ist Flexibilität

von Eva Szulkowski

(…)Mit grellweißer Kulisse, quietschbunten Requisiten und jeder Menge Sauerei wurde das Deck 3 im Handumdrehen zur grellbunten Spielwiese für einsatzfreudige Schauspieler und wilde Ideen.

„Die große zoologische Pandemie“ (Text: Natascha Gangl, Regie: Felix Meyer-Christian) ist in etwa so, wie sich der Laie „modernes Theater“ vorstellt: Bunt, laut, bruchstückhaft und undurchschaubar, aber nichtsdestotrotz ein Heidenspaß. Es geht um den Einbruch – in Häuser, in Körper, in fremde Länder, um diesen Moment der Verstörung, der alles verändert. Mit dabei: Schlagzeugspielende Orang Utans und rosa Karnickel, die Wutreden schwingen. Erst bittere, stille Poesie, dann grelle, laute Anarchie: Ein furioser künstlerische Grundstein für die neue Bühne, der Lust auf mehr macht. 

Produktion: HERZ DER FINSTERNIS

Lichthof-Theater Hamburg & Maxim Gorki Theater Berlin

Hamburger Abendblatt, 12.09.2012

Von der Angst vor dem Fremden und der Wildnis

„Herz der Finsternis“ im Lichthof ist ein gekonnt inszenierter Trip ins Grauen

von Klaus Witzeling

HAMBURG. Eine Kunststoffplane verdeckt im Lichthof-Saal riffartig aufragend die Zuschauertribüne. Die Besucher stehen ratlos vor dem Hindernis. Sie fühlen sich fremd, unbequem ohne Sitzgelegenheiten, wie ausgesetzt. Ähnliche Orientierungslosigkeit empfand wohl Kapitän Marlow bei seiner Ankunft im Kongo in Joseph Conrads Erzählung „Herz der Finsternis“.

Auf den Spuren von dessen Flussreise steigert Felix Meyer-Christian in seiner Multimedia-Performance nach Conrads Stoff die Dosis an Irritationen: mit erzählten Schreckensszenen, grotesken Tänzen und dem tödlichen Schlussritual gespenstischer Lemuren. Er zeigt im szenischen Essay über die Angst vor dem Fremden und die anmaßende Herrschaft der Kolonialherren über die „Wilden“, wie „zivilisierte“ Menschen Schritt für Schritt zu den von ihnen verachteten, versklavten und vernichteten „Monstern“ mutieren.

Ein Dutzend Donnerbleche begrenzt in der Rauminstallation von Eylien König die Spielfläche, bildet den undurchdringlichen Wall des Urwalds und dient zugleich als Projektionsfläche für Signe Koefoeds atmosphärische Videomontage. Die beängstigend intensive Tänzerin und Choreografin – inspiriert durch Afro-Tanz und den an Exzess und Körpergrenzen rührenden japanischen Butho – verkörpert das Fremde in der Konfrontation mit den die Conrad-Prosa sprechenden Schauspielern Lisa Flachmeyer und Meyer-Christian.

Der Regisseur, für den erkrankten Paul Walther eingesprungen, las zwar den Text, agierte jedoch mit, sodass der Trip ins Grauen ungehindert seinen Sog entfalten konnte. So spannte Meyer-Christian in der Szenen-Collage auch den Bogen von den mörderischen Machenschaften der weißen Elfenbeinhändler bis zu den skrupellosen Waffenschiebern in gegenwärtige Kriegszonen.

In der zuweilen quälend rituellen „Austreibung des Bösen“ macht es Felix Meyer-Christian, ein entschiedener Moralist, weder sich noch dem Publikum einfach. Doch packt er am konzessionslosen Abend, ähnlich seinen anderen historisch-kritischen Recherchen, ein verdrängtes heißes Thema an. Und baut – mit gedanklicher Schärfe und künstlerischer Widerständigkeit – eine artistische Stromschnelle in den sich konsumfreundlich und träge dahin wälzenden Theater-Mainstream. (-itz) 

Produktion: ARCHE.ZONE – CHERKIZOV REVISITED

Joseph Beuys-Theater & Sakharov-Centre Moscow, Russia

The Moscow Times, 27 February 2012
Theater Plus / Drama Critic John Freedman about Culture and Art in Russia

Breaking Down the Barriers of Theater

By John Freedman

(…) Next up was „Cherkisov Revisited,“ a performance-installation, if I may put it that way, conceived by Felix Meyer-Christian, Eylien Konig, Karolina Mazur and Alexei Kukarin. This was ostensibly an exploration of the effect that the controversial closing of the Cherkizovsky open-air market had on those who had worked there, although nothing so obvious and concrete emerged from the performance we witnessed. It included documentary texts drawn from interviews with a former market worker, and excepts from the writings of Chingiz Aitmatov.

The audience wandered about the stage, stopping to peruse a sculptural ensemble of pedestals in the center of the hall; to watch excerpts from Andrei Tarkovsky’s film „Stalker“ on a computer in one corner; to watch videos of the old Cherkizovsky market projected on the floor in another corner; to listen to a women reading text in Polish as a Russian interpreter provided simultaneous translation; and to observe an oversized polyethylene bag as it came to life and crawled across the floor.

There was no center of attention and, during a discussion afterwards, director Meyer-Christian admitted he was surprised and even a little disappointed that some elements of his work were basically ignored by spectators. Much was made of the odd figure of the sack making its way across the floor. Some were surprised that no one bothered to open the bag and look inside — clearly there was a person in there, perhaps someone who needed to be liberated. Others pointed out that some spectators stood in the way of the bag and hindered its forward movement. Was this an act of curiosity, indifference or hostility? (…) 

Produktion: KOHLHAAS. FREI NACH KLEIST.

Kampnagel Hamburg (02/2012) & Körber Studio Junge Regie am Thalia Theater Hamburg (04/2012)

Jurytext zur Auswahl zum Körber Studio Junge Regie 2012
20. Februar 2012

von Michael Laages

„Frei nach Kleist“ gibt sich Felix Meyer-Christians Spielfassung von Heinrich von Kleists auch und gerade heute, in Zeiten neuer Revolten, wieder hoch modernem Text über den mörderischen Aufruhr des Rechtsfanatikers Michael Kohlhaas zwar im Titel – aber Kleists Text vertraut der Regisseur zutiefst. Das ist eine der zentralen Qualitäten dieser Abschlussinszenierung an der Hamburger Theater-Akademie: das Material, den Kern der Erregung, nie sehr weit außer Sicht- und Hörweite geraten zu lassen; und drum herum doch eine bilderstarke Phantasie vom erzgerechten, notfalls auch über Leichen gehenden Wahrheitswahn erstehen zu lassen.

Eine Art Baumstamm (aus der Reihe derer, die rechts hinten im Nebel bleiben – als stünden sie schon da für Schillers ‚Räuber‘ in böhmischen Wäldern) wird zur Scheidemarke zwischen Gut und Böse, Gerecht und Falsch; wer den Stamm gesetzt, hat Macht. Oder er verliert sie gleich. Doch Kohlhaas wird im Aufopfern alles Hab und Guts auch zum schwebenden Engel der Gerechtigkeit. All das sind Bilder von starker ikonischer Wirkung; und mit dem außerordentlich bemerkenswerten Ensemble (der „costa compagnie“) gelingt sogar die immer sehr komplizierte Volte ins Politische gegen Ende – sie beginnt mit Martin Luthers Eintreten in die Handlung und endet mit einer Art Verschwörungstheorie: der Causa Kohlhaas als staatspolitischer Ranküne und dem Beschwörer von Recht und Billigkeit als armem Bauernopfer. Das ist ein durchweg starker Zugriff auf Kohlhaas und Kleist mit den Mitteln des Theaters. 

Hamburger Abendblatt, 07. April 2012

Nachwuchs zeigt sich politisch

von Klaus Witzeling

(…) Dennoch zeichnete sich ein verbindendes Thema ab und signalisierte die politisch bewusste Haltung der Nachwuchsregisseure: der Protest gegen herrschende Systeme. Egal, ob an Fassbinders „Anarchie in Bayern“, im dokumentarischen Projekt „Bahar und Omid“ über ein Geschwisterpaar in Teheran oder an Kleists „Michael Kohlhaas“ abgehandelt wurde – übrigens eine reife und heutig reflektierte Interpretation des Novellenstoffs von Felix Meyer-Christian von der Hamburger Theaterakademie.(…) 

Die Welt, 05. April 2012

Mit Haut und Haar dem Theater verschrieben
Jubel, Tränen und Stirnrunzeln bei der großen Theater-Nachwuchsschau des Körber Studios Junge Regie

Von Frank Keil

(…) Überzeugend auch „Kohlhaas. Frei nach Kleist“ von Felix Meyer-Christian von der Hamburger Theaterakademie, der zeigte, dass ein sorgsam karges Bühnenbild wahre Wunder wirken kann, wenn einer es versteht, seine Spieler zu leiten – und umgekehrt. (…)

www.hamburgtheater.de

20. Februar 2012

Keime der Revolution

von Birgit Schmalmack

Revolution kennt zwei Zustände: Wut und Hoffnung. Von Kohlhaas ergreifen sie erst allmählich Besitz.
Auf der schwarzen Bühne ragen Holzbalken bis zur Decke, zu Säulen aufgestellt. Rauchschwaden umziehen sie. Die Pfeiler einer Gesellschaft, welche sind es? Ab welchem Moment geraten sie ins Wanken? Wann beschließen die Untergebenen aufzubegehren gegen die Zustände?

Zunächst glaubt Kohlhaas (Dennis Pörtner) noch an die Gerechtigkeit. Noch vertraut er den Gesetzen, der Ordnung, dem Staat. Erst als ihm in seinem Prozess diese Gerechtigkeit verwehrt wird und seine geliebte Frau Lisbeth von Vertretern dieses Staates so schwer verletzt wird, dass sie stirbt, wird er zum Aufbegehrenden. Er wird zum Racheengel. Hoch schwebt er über der Bühne, nackt in seinem Zuggeschirr. Er sieht sich als Engel Michael, der Rache nimmt für die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren ist. Er schart hinter sich tausende von Unzufriedenen, die unter seiner Führung Herrschende zur Rechenschaft ziehen, auf ihre Missstände unmissverständlich hinweisen wollen und dafür Städte niederbrennen.
Ist dieser alles Maß verlierende Kohlhaas ein Gerechter? Ist er ein Kämpfer, der stellvertretend für viele zur Waffe greift, weil alle anderen Mittel versagt haben?

Regisseur Felix Meyer-Christian hat wie Kleist eine eindimensionale Beantwortung dieser Frage in seiner Diplom-Inszenierung klug vermieden. Er zeigt Herrscher und Revolutionäre, die sich gleichermaßen stark von ihren ganz persönlichen Lebenszielen und strategischen Machtwünschen treiben lassen. Verständnis für Kohlhaas Aufbegehren wird ebenso erzeugt wie sein Getriebensein durch allzu große Emotionalität deutlich wird. Meyer-Christian bedient sich nicht nur für die Textgrundlage einer breiten Sammlung an Äußerungen zum Thema Revolution, (u.a. von Alexander Kluge, Brüggemann, Martin Luther) sondern einer Vielfalt von anregenden Regiemitteln. Mal lässt er unheilschwanger die schwarz gekleideten Vertreter des Staates aus dem dunklen Nebel hervortreten, mal reiht er sie wie Witzfiguren auf einem Balken für ihre Gerichtsshow an. Sprechende Bewegungschoreographien erzeugen immer neue Stimmungen. Unterlegt wird alles von einem mal säuselnden, mal zwitschernden, mal bedrohlichen, mal vibrierenden Klangteppich der Theatermusikerin Katharina Kellermann. Vordergründig prunkvolle Kostüme enttarnen die Oberen.

Meyer-Christian hat hervorragende Schauspieler (Ana Berkenhoff, Sebastian Klein, Miriam Joya Strübel) für seine Inszenierung gewinnen können. Sie springen in schnellem Kostümwechsel von einer Rolle in die nächste. In Zeiten arabischer Revolutionen, Occupy-Bewegung und Demonstrationen in EU-Staaten ist der freien Gruppe Costa Compagnie ein aktueller Beitrag von inhaltlicher und künstlerischer Brisanz gelungen. 

Körber Studio Junge Regie 2012, 4. April 2012

DIGGERS MOST WANTED

von Angela Ölscher und der Redaktion

Wir waren für Euch live beim Körber Studio Junge Regie 2012. Es gab schöne Momente, schräge Stücke und viele Lacher. Hier ist die Hitliste der Redaktion. Mal sehen, ob Publikum und Jury unserer Meinung sind.

Platz 1
“Kohlhaas. Frei nach Kleist”, Regie: Felix Meyer-Christian

Platz 2
„Schwarze Jungfrauen, Regie: Malte C. Lachmann

Platz 3
„Nora oder ein Puppenhaus“, Regie: Julia Wissert

Körber Studio Junge Regie / textversion, 4. April 2012

Getrieben-Sein und dabei draufgehen:

Die Theaterformation „costa compagnie“ thematisiert menschliches Aufbegehren in Kohlhaas. Frei nach Kleist.

Von Michaela Neukirch

Heinrich von Kleist postuliert Aufklärungsdialektik im absolutistischen Regime. Aber befinden wir uns nicht im Jahr 2012? How does this fit? Felix Meyer-Christian antwortet nicht, indem er eine Zeitmaschine baut, um alte Strukturen zu entstauben. Er antwortet, indem er in Kleists Novelle zeitgenössische Politika so aufspürt, dass sie gewissenhaft im Hier und Jetzt den Ruf des Michael Kohlhaas nachhallen lassen. Der aufrührerische Protagonist der Kleist’schen Novelle, den wir heute kurzerhand als Wutbürger bezeichnen würden, spricht von seiner „Pflicht für Menschen und Pferde“. Das klingt erst einmal irre – kann man nicht anders sagen, auch wie der großartig-zappelige Dennis Pörtner diese Worte herausknallt. Die Vielzahl klug verwobener Theaterelemente – Bühne, Licht, Kostüme, Sounds, Performance – sorgen aber dafür, dass der Zuschauer mit präzisem Feinsinn für Bildsprache rational berauscht wird. Und die wahnwitzigen Verstrickungen der Obrigkeit als andere, konspirative Seite zu betrachten beginnt, in der das Einzelschicksal hervorschaut und gleichzeitig untergeht.

„Woher weißt du, dass man dich nicht schützen wird?“, fragt Kohlhaas geliebte Ehefrau Lisbet. Im nächsten Moment liegt sie bereits tot am Boden und der zuvor naiv-optimistische Kohlhaas verliert in seiner Emotionalität vollends den Glauben an die Gerechtigkeit. Die Figur des Martin Luther (Sebastian Klein) taucht auf und überzeugt als pseudo-weiser, selbstironischer Ratgeber („Unrecht mit Unrecht zu vergelten, das gibt noch lange kein Recht“) der einen nackten, strampelnden Racheengel auf die Erde zurückholt, und dabei mild „Ach, Michael“ stöhnt. Die komischen Szenen sind mit die stärksten des Stücks, da sie auf bitteren Sarkasmus verzichten. Derartig gelingt es eine angenehme Distanz zu Kleists Epoche und Weltanschauung finden, ohne sie sprachlich zu verlieren. So rieselt es Möhren- statt Maschinengewehrsalven als lächerliche Juristen-Figuren Kohlhaas‘ Urteil sprechen. Dass diese halb ausgespuckt, zerkaut, fast erbrochen wieder auf dem Teller landen, stört niemanden. Es wird weitergefuttert.

Für die spannend-verstörende Frage „Wann läuft der Einzelne Amok?“ findet Felix Meyer-Christian Umsetzungsformen, die in ihrer sorgfältigen Ausarbeitung und nachhaltigen Vielfältigkeit überzeugen. 

Produktion: HUNDEGRAB

Theater Osnabrück

Neue Osnabrücker Zeitung, 03.09.2011

Spieltriebe-Programm, Route 2: Intensiv, rasend, schnell

von Anne Reinert

Auf heftige Gefühlswechsel dürfen sich Zuschauer der roten Limberg-Route einstellen. Im Naafi-Supermarkt begrüßt Schauspieler Dennis Pörtner sie mit „Odyssee“-Zitaten und führt sie in die deutschsprachige Erstaufführung von „Hundegrab“ , einem Stück, das die Italienerin Letizia Russo vor zehn Jahren geschrieben hat. Der Krieg hört hier nicht auf. Nicht jenseits der Front und nicht nach seinem Ende.

Regisseur Felix Meyer-Christian verschafft ein intensives Theatererlebnis. Das ist auch den überzeugenden Schauspielern zu verdanken, die sich die Kleider vom Leib reißen, mit Schlamm beschmieren und in Gefühle hineinsteigern. Doch das Suhlen im Schmutz befreit nicht von Schuldgefühlen, Trauer und Wut. Am Ende bleiben eine zerstörte Kulisse und die Frage, wer den Krieg begonnen hat. Etwa „du und ich“, wie Luther seine Frau Mánia fragt. Das alles ist zum Weinen traurig und doch beglückend, weil dieses Stück so gelungen ist. (…) 

Produktion: DAS ERBEBEN IN CHILI ODER DIE STUTTHOF-HÄFTLINGE

Deutsches Schauspielhaus Hamburg / Malersaal

Hamburger Abendblatt, 04. Juli 2011

Kaltstart-Festival von starkem „Erdbeben in Chili“ erschüttert

von Klaus Witzeling

HAMBURG. Der glückliche Zufall spielt in der Literatur, im Leben, im Theater oft den Dramaturgen. Beim Abschluss des Kaltstart-Festivals entschädigte die Costa-Compagnie mit Felix Meyer-Christians literarisch-dokumentarischer Performance „Das Erdbeben in Chili oder Die Stutthof-Häftlinge“ voll für die Enttäuschung über die ausgefallene Finale-Werkstatt-Nacht.

Der gewagte Versuch, die Katastrophen und glücklichen Zufälle von 1645 in Kleists „Erdbeben“-Novelle in dem tatsächlichen Exodus der KZ-Häftlinge von Stutthof nach Neustadt von 1945 zu spiegeln, ging überraschend gut auf. Kein glücklicher Zufall. Denn die Grausamkeiten in Kleists Erzählung wie in den Zeitzeugen-Erinnerungen sind für uns heute ähnlich unbegreiflich und ergaben hier ein klug montiertes, verstörendes Bild über die Entmenschlichung des Menschen durch Ideologie-Systeme, sei es im Dienst der Kirche oder eines Terrorregimes.

Von Beginn an betonten Regisseur und Spieler in der Performance den Kunstvorgang. Von einem Museumshocker blickte Urte Clasing auf die Bühneninstallation aus Lebensbäumen und leblosen Körpern. Die Zeitzeugin – sie überlebte als Elfjährige den SS-Angriff auf die Flüchtlingsschiffe in der Lübecker Bucht – gab den Toten ihre Stimme. Den fünf jungen Schauspielern gelang die heikle Balance, die Schreckensszenen emotional zu vermitteln und doch geziemende Distanz zu bewahren. In einer Art Zustand des „seelischen Stillstands“, wie Clasing im Schlusswort sagte. Bewegend, ohne Pathos, fallen Fakten und Fiktion in diesem Requiem mit Gesang ineinander. Ein starker Finale-Schlusspunkt.(-itz) 

Produktion: MOTORTOWN ODER HEIMKEHR

Theaterakademie Hamburg & OUTNOW-Festival Schwankhalle Bremen

www.nachtkritik.de, 12. Juli 2010

Hauptsache exotisch!

von Johannes Schneider

(…) Irakheimkehrer Dannys Bezugspersonen: Es scheint da nur bedingt zynisch, von Felix Meyer-Christians Bearbeitung von Simon Stephens‘ Kriegsstück „Motortown“, das im Anschluss auf der Hauptbühne gezeigt wird, beinahe als Erholung zu sprechen. Ganz reduziert lässt Meyer-Christian seine Protagonisten auf einer schmalen Bühne vor einem schwarzen Vorhang agieren. Annähernd plakativ tritt dabei hervor, wie Irak-Heimkehrer Danny (Dennis Pörtner) verloren ist zwischen denen, die einmal seine Bezugspersonen waren, und die ihn nun, wie er von einem zum anderen geht, abwechselnd spüren lassen (mehr oder weniger bewusst), wie wenig sie noch mit ihm, dem schwerst Traumatisierten, anzufangen wissen.

Als Danny, der clownesk zu Militärmusik einmarschiert und später immer wieder sein Heil in Monologen suchen wird (die der Regisseur aus Briefen englischer Irakkrieg-Soldaten klug in die Stückvorlage eingefügt hat), am Ende in seiner Verzweiflung Bühnenaufbau und Vorhang niederreißt und dahinter doch nur ein größeres Gefängnis vorfindet, ist das in seiner Klarheit ein so unsagbar starker Moment, wie er nur aus planvoller Reduktion resultieren kann. 

Produktion: FAUST II – ENDE

Theaterakademie Hamburg & Maxim Gorki Theater Festival der Kunsthochschulen, Kaltstart-Festival Hamburg, Körber Studio Junge Regie / textversion, körber studio thalia in der gaußstrasse

20. März 2010

Faust-Kerne
Die zwei Faust-Inszenierungen der Late Nights machen die Spannung zwischen Metaebene und Körper zum Erlebnis

von Jan Berning

Im zweiten Teil der Late Night, der Inszenierung des fünften Aktes aus dem Faust II von Felix Meyer-Christian, wird eine alte Erzählerin (Urte Clasing) von den Figuren ihrer Erzählung aus ihrem Stuhl vertrieben, dunklen Typen in Anzügen und Kapuzen-Sweatern. Ein verzerrter Bass erobert die Bühne, daneben schleudert sich der Körper des Tänzers Jascha Viehstädt wie in Krämpfen durch die Luft und gegen die Wand, sich faustisch verausgabend, rhythmisiert durch den Text, der über dieser ständigen körperlichen Bewegung schwebt und nur selten abbricht. Etwa, wenn Faust (Sebastian Klein) „die Alten“ nicht über die Lippen bringt und stattdessen „Alt68er“, „Alternative“ oder „Altersvorsorge“ durch den Raum brüllt, „Altglas“, „Altbier“, Altöl“. „Schmeiß sie weg“, brüllt er Mephisto (Sebastian Moske) an und zeigt auf die Erzählerin, denn die Alten sind seinem Tätigkeitszwang im Weg.

Am Ende siegt, wie man weiß, die Lässigkeit des Prekariats-Mephisto über den Aktionismus-Streber: Extrem witzig und von durchtriebener Coolness, ständig die Hände in den Taschen und sich die Lippen leckend, wie Heath Ledger in The Dark Night oder erotisch das Bein nach oben gestreckt in seinem Sprechen Anleihen nehmen, am Kulthit „Tutenchamun“ der Hamburger Trashkünstler „HGich.T: „ Wir klopfen an – ja? Wir pochten an – ja? Und immer ward nicht aufgetan – ja?“.

Der Mut und das Geschick, mit dem die Hamburger Studenten durch solche Zitate den Faust II ins Jetzt hieven und dabei verschiedenen Spielästhetiken und Genres zur Collage ineinander fließen lassen, ohne sich dabei im Weg zu stehen, macht Spaß und gespannt auf weitere späte Nächte.